Aus:Wegwerfwelten. Fast-Read-Romane Verlag: Benteli, Autor: François Loeb alias Bruno A. Nauser, Sammlung der in der Neuen Zürcher Zeitung, Zürich jeweils am Wochenende erschienen Fast Read Romane. Erscheinungsjahr 1984, ISBN 3-7165-0966-3 DER NEUE FLÜGEL EIN FAST-READ-ROMAN Wir sassen - das heisst ich, meine Frau und unsere vier Kinder - am Mittagstisch. Das Fleisch war abgetragen, wir warteten auf den traditionellen Sonntagsschmaus: Halbgefrorenes mit heissem, aus Tiefgefrorenem des letzten Sommers zubereitetem Beerenkompott. Ohne Sonntagsschmaus kein Sonntags-Mittags- tisch und seit drei Monaten kein Warten auf den Sonntags Schmaus ohne Flügeldiskussion. Begonnen hatte alles, wie gesagt, vor drei Monaten. Die Älteste wollte einen Flügel, liess sich nicht mehr davon abbringen. Steckte die ganze Familie an. Einen Flügel. Nicht mehr und nicht weniger. Trotz angespanntester Finanzlage. Nur einen Flügel. Mein Herantasten an ein Klavier, wohl zu Beginn ein Mietklavier, wie ich mich vorsichtig auszudrücken versuchte, wurde zuerst mit schweigsamer Verachtung und dann mit dem Zauberwort «Flügel» gekontert. Ich begab mich in Musikhäuser. Der kalte Schweiss brach aus, als ich der Wirklichkeit, den horrenden Flügelpreisen, gegenübergestellt wurde. «Sie können ja immerhin auch einen koreanischen Billigflügel, der bei Karezki und Sohn angeboten wird, in Betracht ziehen», sagte salbungsvoll der Flügelmann, der mein Erbleichen richtig gedeutet hatte, «obwohl die Kapitalanlagestrategie, die wir sonst beim Flügelkauf empfehlen, in diesem Falle natürlich dahinfallen würde. Die Depr6ziation», er sagte Depräziation, ich erinnere mich genau, «ist dann natürlich wesentlich grösser, ein koreanisches Modell verliert hierzulande beinahe seinen ganzen Wert im Augenblick des Wechsels über den Laden- tisch »- wie wenn ein Flügel über den Ladentisch wechseln wür- de «wobei selbstverständlich nur den materiellen Wert und nicht den affektiven!» Mit Affekt verliess ich das Geschäft, hörte mir drei weitere Sonntage die geflügelten Tochter-Wünsche an, fühlte mich geschlagen, unfähig... flügellahm, wandte mich letzte Woche an Karezki und Sohn, verschuldete mich tief, liess den koreanisch-affektiven Flügel in unsere Einfamilienhaus-Garage liefern, verbot der Familie wegen explosivem gesund- heitsgefährdendem Farb- und Lackgemisch - ich gab vor, die Farbschäden an unserem Auto zu beheben -, verbot also der Familie den Zutritt, verschloss die Garage, band den Schlüssel um den Hals, duschte und schlief mit ihm. Nun war es soweit. Noch vor dem Sonntagsschmaus bat ich die Familie in die Garage. Zur Besichtigung der ausgebesserten Lackschäden. Schloss auf. Trat ein. Öffnete das Tor. Schwarz blitzte der Flügel im einfallenden Licht. Meine Tochter schlug die Hände vors Gesicht. «Doch nicht so ein Flügel», flüsterte sie. Zog ihre Bluse aus. Entrollte den einen Schmetterlingsflügel an ihrem Rücken. «Einen zweiten solchen Flügel brauche ich zum Fliegen...»