ICH MACHE DICH ZUR SCHNECKE „Auch so ein Sprichwort das den Tatsachen nicht gerecht werden kann. ‚Zur Schnecke machen, was soll denn das?’ Schnecken sind nützliche Tiere, auch wenn wir diese nicht mögen. Nicht mögen wohl ihrer Schleimigkeit wegen. Wie wenn es keine schleimenden Menschen gäbe. Dabei können diese Tiere uns doch auch Vorbild sein. Vorbild in ihrer Behäbigkeit. Ihrer Überlegenheit zur verfliessenden Zeit. Ihrer Verachtung der Sekunden. Der Minuten. Der Stunden gar. Was mich zur Schneckengeschichte bringt. Sie wollen ja Berichte über Absonderliches was in unserem Heim geschehen ist vernehmen. Nun denn, hier haben Sie starken Tabak, den Sie frisch rauchend und auf der Zunge brennend, Ihren Lesern vorsetzen können, wenn diese solchen ertragen können“, ein helles Lachen, in dem aber eine Prise, nein wenn ich richtig hinhöre, eine Handvoll, eine Männerhandvoll Grauen mitschwingt, löst sich tief aus der Brust der Tierpflegerin, der ich in Ihrer Pausenküche gegenüber sitze. „Also“, fährt die etwa fünfzig jährige Frau mit der gegerbten Gesichtshaut und dem grauen, wilden Haarschopf fort, „also, es war vor beinahe drei Jahren, ein feuchter kalter Januartag, eine längere eisige Zeit in der Stein und Bein gefror war soeben zu Ende gegangen und meine Pensionäre die sich in die hintersten Winkel ihrer Nester zurück gezogen hatten lugten neugierig, angenehmere Zeiten erwartend, über den Rand ihrer Bleibe, als es ganz leise, ja, kaum hörbar, gläsern kann ich es nennen, an der Fensterscheibe eben der Pausenküche in der wir jetzt sitzen, klopfte. Unüblich dachte ich. Weshalb benutzt der Besucher nicht die Klingeltaste. Wer klopft – und dann kaum vernehmbar - an ein Fenster um Einlass zu begehren? Anstand ist auch nicht mehr weit verbreitet. Da lob ich mir meine Tiere. Die würden nie und nimmer an eine Scheibe klopfen, geschweige denn störend eine Klingeltaste betätigen. Ich beschloss nicht zu reagieren. Blieb sitzen. Schlürfte weiter an meinem Tee. Sie müssen wissen ich bin ein Liebhaber dieses edlen Getränkes. Nein, nein, nicht in Beutel. Pfui Teufel! Nein, in feinem Porzellankännchen, gut gezogen, getrunken aus hauchdünnem Tässchen. Und dann die Auswahl. Assam, oder China Flush. Aber bitte sehr nicht einfach ein normaler Flush. First Flush Darjeeling Tea, oder noch besser, weil würziger, seltener, kaum von Teepflanzern und Händlern gepflegt, der Autumn Flush der sich stark von dem First und Second Flush unterscheidet und seine eigene besondere Anziehung besitzt.“ Die Augensterne der Pflegerin wandern bei dieser Beschreibung in das Teeparadies ihrer Geschmackserinnerung, sie scheint jedes Wort auf ihrer Zunge mit den Tausenden von Rezeptoren zu geniessen, es ist eine wahre Freude die Augen, die Gesichtszüge und der Tanz ihrer Lippen zu verfolgen, ihren Worten zu lauschen. Wie herrlich muss es sein als Tier in diesem Heim zu weilen, denke ich. Dieser Stimme zu lauschen in der ein Hauch der Ewigkeit mitschwingt, die wir alle als Lebewesen eines Tages, früher oder später erreichen werden. Doch auf einen Schlag kehren die Augensterne in die Schwerkraft unseres Planeten zurück und sie nimmt den Faden ihres Berichtes erneut auf. „Entschuldigen Sie, ich weiche ab, verliere mich, sie müssen wissen, dass dem Teegenuss meine grosse Liebe gilt. Irgendwo muss diese sich ja auszutoben wissen“ und wiederum erschallt dieses so angenehme und gleichzeitig dunkle, Grauenhaftes berührende Lachen. „Vor dem Fenster erblickte ich einen Schatten“, mit leiser Stimme setzte die Tierpflegerin ihren Bericht fort. „Einen Schatten den ich nicht zuordnen konnte. Er hatte keine menschlichen Konturen, doch das konnte, so beruhigte ich mich, an der Dämmerung liegen die zwischenzeitlich wie aus dem Nichts über die Landschaft herein gebrochen war. Ein Nichtmensch, ein Tier kann es nicht sein, sagte ich mir immer wieder und nippte weiter an meinem Tee. Dieser hatte jetzt genau die richtige Temperatur, denn nicht wahr, zu heiss getrunkener Tee ist ein echtes Sakrileg, das niemand begehen soll.“ Dieser mögliche Tabubruch des zu heiss genossenen China Autumn Flush, beschäftigt meine Gesprächspartnerin sehr, denn sie verzieht ihr Gesicht zu einer abweisenden Maske, die den Abscheu nur bereits über das Denken eines solchen Falles zum Ausdruck bringt. Falls es ‚Teeismus’ als Lebensinhalt und –Philosophie gibt, wäre die Tierpflegerin deren Hohepriesterin, denke ich mit einem nur auf meinem inneren Zwerchfell sichtbaren stummen Lächeln. Derweil aber sind meine Pupillen durch die Lippen meines Gegenübers gebunden, nein, gefesselt, denn ich will endlich die Quintessenz des Berichtes vernehmen und nicht neue Erkenntnisse über ein Getränk das ich zwar schätze, über dessen Feinheiten ich mich aber bisher und, ich bin davon überzeugt, auch in Zukunft hinwegsetzen werde. „Der Schatten aber war nicht wie ich es mir aufs sehnlichste wünschte nur in meiner Fantasie vorhanden. Ganz im Gegenteil er erschien immer wieder am Glas und das Klopfen wurde dabei zuerst fordernd und kurz darauf ungeduldig Einlass erheischend. Einen Kopf, oder war es eine Kopfbedeckung konnte ich erkennen und im Dunkel Lippen die sich gespenstisch bewegten. Ein Tierheim hat stets bereit zu sein, analog einer Notfallpforte eines Spitals und so riss ich mich zusammen“, tatsächlich ging bei diesen Worten ein Ruck durch die Gestalt die mir ihr Abenteuer erzählte, „riss mich zusammen, stand auf, versuchte das Beben in meinen Knien zu beherrschen, stellte fest, dass ich auch an den Händen zitterte und meine Zähne leise aufeinander schlugen, beinahe im Dreivierteltakt, denn Sie müssen wissen, dass ich eine grosse Anhängerin der Wiener Walzerkunst bin, ich also richtige Angstzustände durchlebte und mich beim Gehen zur Eingangstüre selbst zu schelten hatte, denn welcher Erwachsene zittert vor einem Schatten. Lächerlich, sagte ich mir, Deine Furcht muss aus Kindheitstagen stammen, doch diese solltest Du mit Deinen zahlreichen Lebensjahren wirklich überwunden haben. Ich also marschierte nicht, nein, schlurfte eher dem Eingang zu, es schien meine Körperfunktionen wollten mich vor Ungemach schützen. Da hörte ich ein leises Scharren an der Türe, eher ein Kratzen wenn ich es beschreiben will, dazu ein lautes Atmen, einem leisen Schnarchen eines Kindes nicht unähnlich und meine Hände weigerten sich den Türknauf zu betätigen, geschweige denn den Schlüssel im Schloss die zwei Umdrehungen durchführen zu lassen, die der Türe das Schwingen in die kalte Nacht erst ermöglichten. ‚Feigling’, sagte ich zu mir selbst, was würde Dein verstorbener Vater zu so viel Angstbezeugung sagen. Er würde Dich kindisch nennen, die Würde eines Erwachsenen nicht fähig’, einen Vogel Strauss hätte er mich benannt, der die Wirklichkeit auszublenden sucht, ohne dieser zu entwischen. So nahm ich meinen Mut im wörtlichen Sinne in beide Hände, schloss die Türe auf, liess diese nach aussen pendeln und erstarrte gleich wie zur Salzsäule, denn vor mir stand zu einem Männchen aufgerichtet eine steinzeitliche Schnecke, ihr Haus aus Schildpatt tapfer tragend, obwohl sie dadurch beinahe ihr Gleichgewicht verlor. ‚Ich komme mich beschweren’, sprach das erregte Tier - in seiner Schneckensprache, weshalb ich diese verstand bleibt mir noch heute ein Rätsel, ‚ ich komme mich beschweren’, seine Fühler zappelten bei den Worten wie in wildem Tanze hin und her, ‚ich habe es satt’, fuhr es fort, ‚immer wieder aus Menschenmund zu vernehmen: „Ich mache Dich zur Schnecke“ und damit Erniedrigung, ja, Vernichtung zu verstehen. Eine Schnecke sein ist doch eine Auszeichnung. Das Lob der Langsamkeit kann nicht genug gesungen werden.’ Das Tier hob dann höflich seinen Hut, unter dem ein goldenes Krönchen sichtbar wurde und zog sich langsam zum Strassengraben zurück, wo es dann verschwand. Ja, ob ich die Angelegenheit echt in Wirklichkeit erlebte, oder echt im Traum durchlebte, das kann ich Ihnen nicht bezeugen. Ist auch einerlei, denn zweierlei habe ich daraus gelernt, Hast bringt keinen Teegenuss und Langsamkeit lässt Träume blühen...“ Wieder schweifen die Augensterne der Tierpflegerin in die Ferne des Universums, halten sich an den Sternen der Milchstrasse, um dann in einem grossen Purzelbaum dem Regenbogen langsam zuzueilen der soeben über dem Tierheim erstrahlt. 1