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Die grosse Zehe

Gestern, ich konnte es kaum glauben, es war gegen 23 Uhr 43 und ich lag nach diesem anstrengenden Tag als Buchhandelsweihnachtsaushilfe bereits im warmen, kuscheligen Bett, verabschiedete sich meine linke grosse Zehe. Einfach so. Muss vom langen Stehen mitten im Gedränge der Geschenkesuchenden in unserem Buchgeschäft den Wunsch nach Einsamkeit entwickelt haben. Kein Wunder, das können alle Mitarbeitenden in der Vorfestzeit bestimmt bestätigen. Die Zehe löste sich ab und fuhr sechzehn Beinchen aus. Ich traute meinen Augen nicht, erwog die Wahrscheinlichkeit des Träumens. Doch die Abtrünnige begann derweil unter der Bettdecke hervor zu krabbeln. »Nein«, rief ich ihr zu, »komm sofort zurück!« Doch nichts geschah. Sie schien ihr neues, frisches, freies Leben ohrenlos zu beginnen. Auch als ich resolut »Fuss« schrie, änderte sich kaum etwas, ausser, dass die zwei Mal acht Beinchen sich hastig zu sputen begannen und grausame, quietschende Kratzgeräusche auf der Bettdecke hinterliessen. Als ich meinen Fingern, ja, der ganzen rechten Hand befahl, nach der Zehe zu greifen, verweigerte diese meine Order.

Und die linke Hand mit ihren satten, ungelenken Fingern tat es ihr nach. Auch sie missachtete meinen Willen und, schlimmer noch, beide begannen schallend zu lachen. Lachfalten durchzogen die Lebenslinie meiner Handinnenflächen. Lachfalten wogten an den Handrücken bis hin zur Elle vor und zurück, erschreckten mich zutiefst, denn ein solch Gewieher hatte ich noch nie vernommen. Der vermaledeite Lärm kam aus meinen beiden zuvor stets stillen Händen, die gesteuert von den nahen Verwandten der grossen Zehe, den zehn Fingern, in einem Mass Insubordination betrieben, das ich nicht hinnehmen durfte, da ich am Morgen wieder in der Buchhandlung für einen langen Stehtag anzutreten hatte und keineswegs jede Autorität über meine Glieder verlieren durfte. Die grauen Zellen bewegten sich wie im Sturm in meinem Hirn und suchten nach passenden Verhaltensweisen, konnten jedoch in dem tief im Inneren versenkten Erfahrungsschatz keinen Ratschlag finden, worauf sie eine kopflastige Notversammlung einberiefen, denn die Flucht einer grossen Zehe war nicht tolerierbar, geschweige denn zu begrüssen.

Der dicken Zehe wuchsen in der Zwischenzeit Flügel, so sah ich mit wachsender Bestürzung, ich konnte bei deren Entfaltung die feinen gerippten Äderchen in der hauchdünnen Flughaut erkennen und langsam, mit großer Mühe anfänglich, schwang sich die, vorerst zu schwer erscheinende Zehe in die Lüfte. Sie umflog zunächst dreimal meine Nase, äste einige Haare auf meinem Kopf und flatterte schließlich davon. Derart gestärkt flog sie zur Zimmerdecke empor und zischte daraufhin im Sturzflug an meinem rechten Ohr vorbei, nicht ohne mir dabei zuzuflüstern:
»Ich entfliege wieder. Denn unser beider Seele sitzt nackt unter meinem Nagel und sie braucht die Luft der Freiheit«, und nach einer Pause dem anderen Ohr ergänzend zu verraten, »wenigstens von Zeit zu Zeit. Nach der strengen Weihnachtszeit. Nach dem Ende der Buchhandlungs-Aushilfszeit.«


"Die grosse Zehe" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:





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