Kurzgeschichte der Woche

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Hoch-Zeit

Ja, das war ein Erlebnis. Einmalig. Aufregend. Ich wurde über mein Telefon zur dieser Panne gewiesen. Das ist bereits ausserordentlich und erfolgt nur in Notfällen. Wenn zum Beispiel ein Pannenfahrzeug so steht, dass es den Verkehr blockiert. Oder Kinder in einem Wagen an der prallen Sonne sitzen, die Verriegelung aktivieren, indem sie mit dem Schlüsselspielen, den der Vater im Auto liess, und kein Zugang ins Innere mehr möglich ist. Aber die Panne zu der ich in höchster Dringlichkeit beordert wurde, hatte nichts mit alledem zu tun. Kein trauriger Fall. Nein ein höchst erfreulicher. Ein Höhepunkt im Leben der Betroffenen, der nicht vermasselt werden durfte. Ich wurde zu einem Miet-Rolls-Royce aufgeboten. Zu einem kirchlichen Aufgebot. Es war ein Samstag. Richtiges Hochzeitswetter herrschte. Blauer Junihimmel. Kein trübendes Wölkchen am Himmel. Beste Voraussetzungen für den Bund des Lebens, dachte ich bei der Hinfahrt, die glücklicherweise der Dringlichkeit wegen nur sieben Minuten währte. Ich stieg aus dem Patrouillenwagen. Traf einen sich im höchsten Aufregungszustand befindlichen Bräutigam vor. Und eine in Tränen aufgelöste Braut. Der Mann in perfekt geschnittenen schwarzen Anzug. Die Braut in einem herrlichen blütenweissen Chiffonkleid, von dem beinahe, so dachte ich, jede junge Frau träumt. Beide standen vornübergebeugt über der geöffneten Motorhaube des Rolls-Royce Silvercloud. Des Bräutigams Hände waren Ölverschmiert. Das weisse Einstecktuch hatte er als Abwischer benutzt, es lag beinahe schwarz auf dem Motorblock.

„Der Wagen springt nicht an“, begrüssten mich die beiden simultan, ein gutes Omen für die Ehe, schoss ich aus den gleichzeitig ausgesprochenen gleichen Worten.
„Da wollen wir mal schauen“, antwortete ich.

„Es ist aber äusserst dringend“, bewarf mich der Mann mit Wut- oder waren es Ärgerworte: „Um punkt elf ist unsere Vermählung in der Kirche“, er nannte das übernächste Dorf, „und der Pfarrer wies uns darauf hin, dass wir nicht verspätet kommen dürften, denn dreissig Minuten nach uns trete das nächste Brautpaar vor den Traualtar. Es ist jetzt sieben vor elf. Ein schlechtes Zeichen für unsere Ehe, wenn wir es nicht schaffen pünktlich zu sein. Meine Grossmutter, ich gebe es zu, sie ist altmodische und abergläubisch, warnte uns vor Unpünktlichkeit. Eine solche bringe Ungemach. Und jetzt … dieser Mist. Sie sind unsere letzte Rettung. Unsere Hoffnung dieses Mietauto wieder in Gang zu setzen, damit wir standesgemäss vorfahren können. Es sind viele Gäste da. Und auch die Presse. Meine Angebetete ist eine bekannte Sängerin. Und die Bilder werden in zahlreichen Zeitungen und Illustrierten erscheinen. Also bitte helfen Sie uns schnell!“ Ein tiefer Seufzer löste sich aus seiner Brust und die Braut schlug beide Hände vor die Augen, um den Tränen nicht die Möglichkeit zu geben ihr Makeup zu verwischen.

Ich überlegte kurz. Es war unmöglich in zwei Minuten – die Fahrt zur Kirche würde, ich kenne die Gegend wie meinen Hosensack, die Fahrt würde fünf bis sechs Minuten beanspruchen – in zwei Minuten eine Reparatur auszuführen. Blitzschnell kombinierte ich alle Möglichkeiten. Ein Taxi rufen. Zu spät. Einen Wagen auf der Strasse anhalten. Nein, bis alles erklärt sein würde, wäre es zu spät. Das Brautpaar mit dem Patrouillenwagen vor die Kirche fahren. Undenkbar. Nein, wo wäre da das Standesgemässe. Und die Bilder in der Presse. Ein Brautpaar das zerknittert aus dem Beifahrersitz klettert. Meine linke Hirnhälfte begann, als läge sie wie ein Weberschiffchen auf dem Webstuhl, Gedanken und deren Kombinationen hin und her zu schiessen. Und so schlug ich dem Brautpaar vor im Rolls-Royce Platz zu nehmen. Den Schalthebel in den Leerlauf zu legen. Ich würde den Silvercloud dann mit Würde vor die Kirche schleppen und niemand würde das Schleppseil beachten, denn es läge dann ganz locker am Boden. Der Bräutigam müsse einzig vor dem Gotteshaus und dem Spalier der Presseleute, wenn ich bremsen würde den Wagen auslaufen lassen. Und ein Patrouillenwagen des TCS könne aus reinem Zufall in der Gegend sein. Sie willigten ein. Ich befestigte mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit das Abschleppseil, fuhr an und hielt, ich muss es zugeben, die vom Hersteller vorgegebene Abschleppgeschwindigkeit bei Automatikgetrieben von 50 km/h, nicht genau ein. Jedenfalls gelang die Ankunft um elf Uhr null drei perfekt. Das Brautpaar stieg in einem Blitzlichtgewitter aus. Schritt würdevoll zum Kircheneingang. Die Fotographen hinterher. Als es wieder ruhig wurde behändigte ich mein Schleppseil, machte mich an die Reparatur, die in wenigen Minuten gelang, es war nur eine Kleinigkeit zu richten, liess den Schlüssel stecken, war überzeugt, dass niemand es wagen würde ein mit weissen Blumen geschmücktes Fahrzeug im höchsten Glück eines Paares zu entwenden.

Überrascht und erstaunt, fand ich Abends vor meiner Wohnungstüre, fein säuberlich in eine Kuchenschachtel verpackt, ein Stück Hochzeitstorte vor, geschmückt mit einer Visitenkarte auf der mit feinster Schrift geschrieben war: ‚Unser innigster Dank dem genialen Retter in höchster Hoch-Zeit-Not!‘


"Hoch-Zeit" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:





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