Kurzgeschichte der Woche

Pille-Palle

Frühmorgens! Tau liegt auf den Gräsern. Was liebe ich diese entstehende Tageszeit. Neuer Tag! Neues Leben. Alles noch unbestimmt. Alles kann sich entwickeln. Leise vor mich hin trällernd marschiere ich wohlgemut den Bettlerpfad entlang. Ja, wie ein Bettler fühle ich mich. Ein reicher Bettler. Denn mir gehört Zeit. Das wertvollste Gut auf dieser Welt. Und die besitzen die meisten Menschen nicht. Nicht mehr. Sie hetzen durch die Tage. Reiben sich den Schlaf frühmorgens aus den Augen. Schliessen sie dann erst spät in der Nacht. Erinnern sich kaum mehr wo die Minuten und Stunden verflossen sind. Und ich? Jede dieser Tagminuten geniesse ich bewusst. Lasse diese auf der Zunge vergehen. Zerbeisse nicht Stundengläser und schlucke diese noch roh. Ohne zu bemerken was deren Inhalt war. Scherben verbleiben. Tagesscherben die Tagesbilder zerstören. Zerreissen. Verletzen. Das Herz zerreissen.

Da lobe ich mir mein Bettlerdasein. Heute in besonderem Masse. Denn ein Bettler auf dem Bettlerpfad ist das nicht des Glücks Erfüllung? Links jetzt ein Flüsschen. Dann eine Schafsgarbe die einsam den Wegrand hütet. Eine Verwandte? Eine Geniesserin solange kein Schaf ihren beschaulichen Tag zerstört. Eine kleine Kapelle säumt den Weg. Verschlossen. Erstaunt mich nicht. Nähere mich einer Siedlung. Schrebergärten künden diese an. Gepflegt. Beinahe jedes Gräslein mit der Nagelschere getrimmt. Ein kleiner Teich. Einsamer Goldfisch sehnt sich nach dem Freund. Kann er trotzdem geniessen? Radieschen spriessen, helles rot zum Himmel strebend in einem kleinen Beet. Da vorne steigt ein Rauch aus der Gartenhütte. So früh? Ich schreite würdevoll, will guten Eindruck auch als Bettler vermitteln, durch das Gartentor. Es quietscht. Ein Hund gibt an. Leise. Künstliches Gekläff? Niedriger Batteriestand? Klopfe an der morschen Tür. Keine Antwort. Stille umgibt mich wie ein leiser Schleier. Verschleierte Stille.

Was für eine herrliche Vorstellung. Versuche zu öffnen. Die Türe hängt in ihren Angeln. Schräg. So schräg wie ich selber bin. Immer war. Ziehe leicht. Die Türe fällt mir entgegen. ‚Mit der Tür ins Haus fallen‘, was für ein treffender Ausdruck. Schummrig ist es im Raum. Sehe kaum etwas. Und da … sehe ich richtig? Ein Knochenmann sitzt in einem modrigen Lehnstuhl. Klappert mit den Händen. Ist es ein Windstoss der das bewirkt? Erschrecke leicht. Der Tod ist ja Gevatter. Aber in einer Gartenlaube? Schaue auf das Kalenderblatt das akkurat abgerissen ist. Nein, das kann nicht sein. 4. Manuar 2457. Was soll das? Ist der Mann verrückt? Bin ich es? Bin ich durch die Zeit gefallen? Ach Himmel! Ist mir doch Pille-Palle in welcher Zeit ich lebe. Hauptsache ich bin zufrieden und geniesse jede Stunde. Lasse diese auf der Zunge leicht vergehen. Vergänglich ist schlussendlich alles …

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Ein Kommentare zu dieser Kurzgeschichte:

Am 16. September 2016 schrieb ein anonymer User:

Ruhige Morgenpoesie eines zufriedenen Menschen. Eine überraschende Pointe mit einem philosophischen, offenen Ende. Ist der Protagonist ein Pilger durch die Zeit, ist er wirklich im ewigen Haushalt des Gevatters Tod gelandet, wo geheizt wird und wo ein Hund lebt? Friedlich wie die Morgenstimmung bleibt die Geschichte offen - bis zur Ewigkeit? "


"Pille-Palle" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:





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