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Der Wortakrobat


"Dass es das gibt, hätte ich nie gedacht. Ehrlich! Ich war am Aufräumen nach einer Nachmittagsvorstellung. Da liegen besonders viele Papiertüten und leere Eisstängel herum, ist doch Zirkus insbesondere für Kinder mit Leckereien verbunden. Erinnern Sie sich doch selbst daran! Na, stimmt es, was ich behaupxe?" Ein strahlendes Lachen ging bei diesen Worten über das Gesicht des Reinigungsarbeiters, der so gerne Clown geworden wäre. Aber das erzählte er mir erst später.

"Also kroch ich unter die Bänke und pickte mit dem grossen Stab nach den Papierchen, als er plötzlich vor mir stand. Wie er den Eingang zum Chapiteau gefunden hatte, der verriegelt wird, sobald die letzten Zuschauer gegangen sind, ist mir schleierhaft. Aber er stand da, klein, und ich würde sagen, natürlich ohne ihn verunglimpfen zu wollen, hässlich. Ja, das ist der richtige Ausdruck. Kaum Flaum auf dem Kopf, dafür zwei Strähnen ungepflegten Haars im Nacken, eine platte Boxernase, als sei sie schon einmal eingeschlagen worden, wulstige Lippen mit einer Warze im linken Mundwinkel, die wegen des ausfliessenden Speichels selbst noch im abgedunkelten Zirkusraum glänzte. Zu kurze Arme und O-Beine sowie ein unappetitlicher Schmerbauch vervollständigten das Bild.

‚Ich will mich bewerben, bin ich hier an der richtigen Stelle?'

Wie kann jemand auch nur auf den Gedanken kommen, sich beim Zirkusreiniger zu bewerben? Der Hässliche, so hatte ich ihn in meinem Kopf bereits getauft, schien jedoch nicht zu scherzen, zu ernst sah er mit seinen verwaschenen grauen Sperberaugen aus, die sich in meine Oberlippe verbissen hatten – sie hingen an ihr wie an einem Trapez, den Unterteil meines Mundes schienen sie zu ignorieren.

'Als Reiniger?'

'Nein. Als Wortakrobat.' 'Wie bitte?'

'W wie Walter, O wie Otto, R wie Rudolf.'

Ich unterbrach ihn. 'Selbst wenn ich nur ein Reiniger bin, so ist mein Verstand nicht klein und meine Ohren hören perfekt! Ich habe Sie verstanden, aber diesen Beruf gibt es nicht. Wortakrobat, dass ich nicht lache!'

Der Hässliche aber bestand auf der Berufsbezeichnung, sodass ich ihn, neugierig geworden, um eine Erklärung bat, was er mit stolzgeschwellter Brust gleich in Angriff nahm.

'Sie wissen sicher, dass jedes Wort eine, wenn nicht zwei Seelen besitzt. Wie wir Menschen. Wir aber tragen dem nicht Rechnung, ja vergessen das meist. Auch mir ging es so. Bis ich Worthungertage einlegte.'

'Worthungertage?'

'Ja. Sie können sie auch Wortfasttage nennen. Vierundzwanzig Stunden ohne ein Wort auskommen. Ohne ein gesprochenes Wort geht das gut an und ist nicht allzu schwierig. Aber kein Wort zu denken und erst recht keines zu träumen, ist schon Akrobatik!'

Statt mir seine Muskeln zu zeigen, öffnete der Hässliche seinen Mund, als sei er der Walfisch, der Jonas einlassen möchte. Ich nahm an, er tat dies einzig, um mir zu beweisen, dass er keinen doppelten Gaumen hatte, in dem er gewandt Worte verstecken konnte.

'Und am Ende eines solchen Tages', fuhr er fort, jetzt schien er mir aufzublühen wie eine Rose beim ersten Sonnenstrahl am Morgen, 'fliessen die Worte, neue Worte aus mir über meine Zunge und ich koste sie, wenn ich sie spreche, so honigsüss und pfefferstark sind sie dann, dass ich mich wahrlich Wortakrobat nennen darf. Die volle Wirkung des Wortverzichtes kommt jedoch erst nach geraumer Übung, das ist wie bei jedem Artisten: Übung macht den Meister', und jetzt lachte der Hässliche, der mir nun, da er von seiner Leidenschaft erzählte, gar nicht mehr hässlich schien. 'Wobei ich den Vorteil habe, nicht jeden Tag zum Training antreten zu müssen, zwei Mal die Woche genügt vollkommen, mehr wäre kontraproduktiv.

Die vierundzwanzig Stunden aber sind strikte einzuhalten und heute ist nicht so ein Tag, wie Sie feststellen können, denn heute spreche ich ja mit Ihnen. Mein Wortfasttag', und jetzt löste er seine Augen von meiner Oberlippe – ich empfand es fast so, als würde an dieser Stelle ein Pflaster gelöst –, um auf seine übergrosse rhombenförmige Armbanduhr zu blicken, 'beginnt in genau dreiundfünfzig Minuten und wird, da es sich um einen Schaltwortfasttag handelt, achtundvierzig Stunden dauern, mir wird schon beim dem Gedanken bange, so lange kein Wort auch nur anzudenken, mir keinen Buchstaben vorzustellen, im Nichts zu versinken, um dann daraus, so hoffe ich, wortvoll und nicht wortlos wieder aufzutauchen. Sie müssen wissen, mit Wortschaltfasttagen habe ich keinerlei Erfahrung, sie treten nur alle zweihundertsiebenundsiebzig Wortfasttage auf, und so lange pflege ich die

Wortakrobatik noch nicht … Ich will mich bewerben', fügte er lautstark hinzu. 'Nach den Schaltfasttagen werde ich im Zirkuszelt umwerfend sein!'

'Aber bei mir sind Sie mit Ihrer Bewerbung an der falschen Stelle. Ich bin Reiniger und habe zum Programm nichts zu vermerken und schon gar nichts zu bestimmen.'

'Gerade Sie aber brauche ich, denn ohne Wortreinigung komme ich nicht zu meiner Anstellung! Sehen Sie, die Welt besteht aus Füllwörtern, Bindewörtern, Behelfswörtern und was sich sonst noch alles unter Wörterbuchsonnen räkelt. Und eben diese Überflüssigkeiten sind bei der Wortakrobatik auszumerzen. Mit Stumpf und Stiel! Betrachten Sie nur den letzten Satz, den ich sprach, in ihm sind so viele der besagten Worte … Bitte helfen Sie mir! Wir werden ein fantastisches Duo sein. Doch bevor ich mich richtig bewerbe, will ich zu meinem Training schreiten. Haben Sie in Ihrem Wohnwagen ein Plätzchen für mich? Nur für eine Nacht oder auch deren zwei. Bitte, bitte!', bettelte er mich an.

Ich konnte den Mann einfach nicht abweisen und so dachte ich, wer weiss, möglicherweise hilft er mir aus meinem Abfallaufpickdasein heraus, denn mich täglich um weggeworfene bunte Papiere zu kümmern, die alsdann in den Tiefen des Mülls entschwinden, kann nicht das Ziel des Lebens bedeuten. Also sah ich den Hässlichen, der für mich längst nicht mehr hässlich, sondern nur noch in meinem Wortgebrauch als 'der Hässliche' festsass, lange an. In seinen Augen sah ich die Hoffnungsfunken, die schon begonnen hatten, auf mich überzuspringen.

'Kurzschlussgefahr!', warnte mich mein Verstand und ich sprach gönnerhaft, mehr mit der Unterlippe, damit der Betrachter die Ernsthaftigkeit der Worte immerhin in Zweifel ziehen konnte: 'Die Zirkusordnung verbietet uns zwar explizit', ich liebe dieses Wort, es zerschmilzt auf der Zunge wie ein Häppchen Speiseeis, 'Fremde für die Nacht in unseren Wagen aufzunehmen, doch ich habe beschlossen, dass mir ein Wortakrobat nicht mehr fremd ist, denn Ihre Worte, die in den Farben des Regenbogens schillern, geben mir ein Stück warme Heimat, sodass ich die Übernachtungen und damit die Übertretung der Zirkusordnung, aber das ist dann eben keine, weil sie mir nicht mehr fremd sind, vor meinem Gewissen als vertretbar empfinde. Und morgen fasten Sie? Ein wortloser Tag? Nicht einmal Worte denken? Und übermorgen auch?'

'Ja, genau.'

'Wie wollen wir uns dann verständigen?'

'Müssen wir nicht.'

'Gut. Komm! Ich darf doch meinen künftigen Partner duzen? Ich bin der Maurice.'

'Ich der Francescintholo.' 'Francescintholo?'

'Ja, ganz einfach, nicht? Einzig das 'h' habe ich hinzugefügt – wortakrobatisch', und er lachte erneut sein wundervolles ansteckendes Lachen.

'Folge mir!' Und ich ging ihm voran zu meinem Wohnwagen. 'Bitte Francescintholo – entschuldige, dass ich deinen Vornamen immer wiederhole, aber einen solchen wundervollen Namen gibt es nur einmal auf der Welt und er ist so meilenweit besser als dieses Maurice, das mir wie eine Mütze, die tief über die Augen gezogen wird, übergestülpx wurde. Eine Wollmütze, weil das Wort warm gibt, aber auch gleichzeitig kratzt.'

'Weisst du', antwortete mir Francescintholo, 'das ist das Fantastische bei Worten, sie lassen Gefühle aufleben. Die richtigen Worte. Überlege mal, wie viele falsche Worte wir verwenden, die das nicht schaffen. Entschuldige, ich spreche sozusagen auf Vorrat, aber achtundvierzig Stunden, ohne nicht einmal an ein Wort zu denken, du kannst dir kaum vorstellen, wie schwer das auf mir lasten kann. Doch dann die Befreiung! Das erste Wort. Aufgestaut. Schon daran zu denken, ist ein Erlebnis ganz besonderer Art! Und dann, dann wird der Geist richtiggehend geflutet, was dann in meinem Innern, in meinem Kopf, in meiner Seele vor sich geht, ist nicht auszudenken. Man kann es nur selbst erleben', die Augen des Wortartisten schwebten zum Himmel empor, als wären sie an einen bunten Kinderluftballon gebunden. 'Und dennoch, diesmal fürchte ich mich. Du verstehst, der erste Schalttag

…, was wird da geschehen? In meinem Innern geschehen? Schon nach vierundzwanzig Stunden diese Emotionen, wie wird es erst nach achtundvierzig sein? Aber bei dir fühle ich mich sicher aufgehoben. In deinem Wohnwagen. Da fürchte ich mich nicht! Du hilfst mir doch. Oder? Falls es notwendig wird.'

'Natürlich Francescintholo', versuchte ich den erregten Artisten zu beruhigen. 'Aber sage mir noch eines, mein Freund, was willst du denn als Wortartist dem Publikum bieten? Falls du eine Anstellung suchst, musst du den Direktor überzeugen. Sonst', und ich zog eine Schnute – das konnte ich nämlich am besten, tief in mir schlummerte ein verkannter Spassmacher –, 'sonst wird es nichts mit deinem Auftritt im Zelt.'

Traurig blickte mich Francescintholo mit seinen immer noch schwebenden Kinderaugen an: 'Ach, ihr Menschen, immer dieser Leistungsdruck … Es ist jetzt Zeit. Kein Wort mehr. Ich habe ihn einzuhalten, den Schalt …' Die Augensterne Francescintholos verdunkelten sich langsam, versanken in sich selbst.

Stumm verbrachte er zwei Tage und zwei Nächte in meinem Wohnwagen, und als ich sechs Stunden vor Ablauf seines Schaltwortfasttages zur täglichen Papierpickarbeit aufbrechen musste, versprach ich ihm, zu seinem Aufbruch in den Wortalltag rechtzeitig wieder an seiner Seite zu sein. An diesem Tage aber, die Hitze brütete im Zirkusrund, musste ich eine wahre Papierflut bewältigen, sodass ich erst verspätet in der Abenddämmerung nach Hause kam. Auf dem rosaroten Himmelszelt über meinem Wohnwagen glitt ein helles Wölkchen.

Francescintholo habe ich nie wieder gesehen. Er war nicht von dieser Welt, so tröste ich mich und sehe abends oft zum Himmel hoch. Auf welchem Stern mag mein Freund jetzt seinen Wortfasttag einhalten?"

Aus: Geschichten die der Zirkus schrieb. 24 Geschichten

Verlag: Benteli, Autor: François Loeb. Beiträge von Rolf Knie. Illustriert von Ted Scapa Erscheinungsjahr 2007, ISBN 978-3-7165-1481-8


"Der Wortakrobat" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:





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