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Die Einladung

Mein Sonntagsspaziergang ist beinahe ein heiliges Ritual. Ein Fixpunkt in meinem Leben. Es ist der Einschnitt der Zeit. Das Zeichen für meinen Geist, dass Ruhetag ist. Obwohl ein Geist nicht ruhen kann. Da stimmen Sie bestimmt mit mir überein. Ein ruhender Geist! Ha! Das ist ein Widerspruch in sich selbst. Aber es ist gerade diese Gegensätzlichkeit die meinen Halt im Leben darstellt. Die Welt ist doch voller solcher Spannungspunkte, die bisweilen wie ein zu stark angespanntes Seil ins Sirren kommen, drohen zu zerreissen, federnd Opfer fordern im Augenblick in dem sie sich entspannen. Der Sonntagvormittag also bringt Ruhe und Sicherheit in mein Dasein. Er wiederholt sich stets und es liegt an mir ihn zu dem zu gestalten was er sein soll, eine beinahe kultische Handlung. Der Seine entlang wandern. Das Wellenkräuseln geniessen das der Wind auslöst. „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“, was singsangte mir meine Mutter dieses Lied, als ich die Welt im Kinderwagen zu entdecken begann. Die Sonnenstrahlen die sich im Fluss abkühlen, was für ein einmaliges Bild. Sie durchdringen die Oberfläche. Brechen sich in Prismen, Farben. Tanzen eine Quadrille. Für alle die es erkennen wollen. Und die Regentropfen, die wie Wunschträume platzen, zerstieben und einzig sich ausweitende Ringe hinterlassen. Augenringe, denke ich mir, denn Wünsche die entschwinden, zerplatzen bringen schlaflose Nächte. Wälzende Nächte. Nächte voller Trost- und Aussichtslosigkeit.

Und der Winterschnee der sich nach Sommerhitze sehnt ohne zu erkennen, dass diese ihn nicht leben lassen wird. Die Gewittergrolltöne die sich nicht sonnen, aber im Echo baden wollen. Und der heutige Sonntags Croissant Duft, gepaart mit zermahlenen Kaffeebohnengeruchsessenz, der sich, als sei er ein Spürhund, den ganzen Weg an meine Nase heftet. Mich verfolgt. Und das sonntägliche Betrachten der Clochards. Das süsse Mitleidsgurren das sich augenblicklich auch am heutigen Sonntag in meinem Halszäpfchen breit macht. „Die armen Kerle“, denke ich. „Kein Heim! Hungern! Sehnen sich nach einem Sonntagsmahl. Nach Braten. Seinem Jus. Nach einem frischen Brot. Einer exzellenten Flasche Roten Rebensafts, die für mich zu Hause bereits geöffnet auf mich wartet. Vom Leben Vertriebene. Flüchtlinge von Lebenslagen. Schieflagen. Schlagseitig getroffen. Untergehend. Versinkend im Meer der Ausgeschlossenheit. Verzweifelt. Auf Hilfe angewiesen. Auf fremde Stützung. Andere Menschen als Krückstock nutzend. Eigentlich“, so sage ich mir, „wäre es gerecht einen dieser Käuze zum Mittagsmahl einzuladen. Einen zu bitten mitzukommen, im echten Leben einen Schnupperkurs zu absolvieren. Ihm für einige Stunden Absolution zu erteilen von seinem scheusslich schrecklichen Leben. Von seinen Ängsten. Seiner entsetzlichen Umgebung. Seiner Hoffnungslosigkeit.

Ihm zu ermöglichen seine Seele bei klassischer Musik, Kerzenschein und Speis und Trank aufzuwärmen. “Aber, wenn ich mir den da unter der Brücke betrachte, zerzaust, fleckiger Mantel. Oder den Kerl auf der Bank da sitzend. Mit gesträubtem Bart, seine Kappe tief ins Gesicht gezogen, sich am Nacken kratzend. Nein, Läuse will ich keine auflesen. Das nicht. Keinesfalls. Wenn ich nur einen anständigeren finden würde. Einen bürgerlichen Clochard. Dem ich eine Einladung kredenzen könnte, ohne mich im Schmutz suhlen zu müssen. Der da, mit dem abgewetzten Mantel vielleicht? Sieht passabel aus. Ich werde ihn bitten. Gehe näher zu ihm hin. Mit glotzigen, weit aufgesperrten Augen, unter denen sich pechschwarze, wie mit Kohlestift aufgezeichnete Schatten kräuseln, beobachtet er stumpf meine sich ihm nähernden Schritte. Oh Himmel! Ich habe mich wohl getäuscht. Nehme, wie ein sich ängstigendes Reh, Witterung auf. Nein, diesen Geruch nach abgestandenem Schweiss, gepaart mit Unterleibsdüften, nein, das werde ich in meiner doch recht luxuriösen Wohnung nicht dulden können. Er würde mir den über zwanzig Jahren aufgebauten Eigenduft, an dem ich so fest hänge, gleich zerstören. Meine Füsse machen, obwohl ich noch nicht an Umkehr denke, ohne mein Zutun rechts umgekehrt. „Wie soll ich nur Gutes tun, wenn das Schicksal mir keine Gelegenheit dazu gibt“, lallt meine Zunge stumm meinen Hirnzellen zu.

Doch der Glotzkopf steht jetzt auf. Folgt mir! Er ist ein grosser starker Mann, stelle ich fest! Will er mich überfallen? Ich beschleunige meine Schritte. Sehe mich um. Wir sind gänzlich allein. Ich bin dem Kerl ausgeliefert. Kann niemand um Hilfe bitten. Was soll ich bloss unternehmen. Wechsle in Laufschritt jetzt. Beginne zu keuchen. Meine Leibesfülle behindert mich. Ob ich will oder nicht. Der Clochard ist schnell. Dünn. Hat eine erstaunliche Kondition für ein herunter gekommenes Wesen. Nun ist er gleichauf. Sein Duft hüllt mich ein. Gleich wird er zuschlagen. Angstschweiss überschwemmt meinen Rücken, als stünde ich unter einem Wasserfall. Ich rufe laut um Hilfe. Niemand hört mich. Ich bin verlassen. Ausgeliefert! Jetzt steht der Kerl vor mir. Blockiert meinen Weg. Mein Fortkommen. Ich halte an. Eine weitere Flucht hat keinen Sinn. Ich muss mich in mein Los ergeben. Was will er vor mir. Gleich wird er mich meiner Barschaft berauben und mich brutal in die Seine stossen…

Da er öffnet seinen Mund, um den ein harter Zug zeigt wes Kind seine Seele ist. Ich zittere am ganzen Leib. Er beginnt zu sprechen: „Du siehst so hungrig aus, ich wollte Dich bitten mit mir meine Baguette zu teilen, sie ist mit Butter und frischem Camembert bestrichen. Nimmst Du meine Einladung an?“


"Die Einladung" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:




Einige Kommentare zu dieser Kurzgeschichte:

Im Juni 2016 schrieb R.B.:

"Lieber Herr Loeb, die Geschichte berührt in der Seele! Danke dafür! Ich hab mal eine ähnliche erlebt in der Altstadt... wenn ich am Sonntag "Stadt-wandere" habe ich immer einen 10-Fr. Schein dabei, den ich manchmal zum Kaffee trinken nutze. Ein Obdachloser fragte mich um etwas Kleingeld... Adventzeit, kalt, geschmückte Schaufenster und buntes Treiben in der Gasse... ich gab ihm einfach die 10.00Fr. Nach dem üblichen Dank, kamen wir ins Gespräch - und er "grub" aus seiner Westentasche einen Grittibänz hervor, den er am Morgen beim Heilsarmee-Zmorge mitgenommen hatte. Er teilte ihn und gab mir die Hälfte! - Nicht gerade apetittlich, dachte ich, aber wir assen gemeinsam, plauderten und als ich am Bahnhof ins Tram gegen Bümpliz stieg... habe ich ein besonderes Geschenk mitgetragen, das mich in der Seele wärmt... die Begegnung mit einem warmherzigen Menschen! "

Im Juni 2016 schrieb A.B.:

"Lieber Francois, diese Wochengeschichte ist sehr, sehr gut - eigentlich wie mir aus dem Herzen geschrieben."

Im Juni 2016 schrieb ein anonymer Leser:

"Eine anrührende zu herzengehende Geschichte!
Mit einem überraschenden Ende. Genial!"




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