MALLORQUINISCHE MINIATUREN D E R A U F R U H R In dieser mittelalterlichen Stadt kannte ich mich nicht aus. Es war mein erster Besuch hier und ich war begeistert. Die alten Mauern, die zahllosen Erker, die Gässchen, die gepflasterten Straßen - es stimmte einfach alles hier in dieser Stadt. Ein Freund hatte mir einen Gasthof empfohlen mit einem epikurschen Keller, in dem man vorzüglich speisen könne und der zudem preisgünstige Zimmer vermiete, sodass nach einem köstlichen Essen und Weingenuss nur eine Treppe zu den Schlafgemächern zu überwinden sei. Nach ausgiebigen Erkundungsgängen durch die Stadt, in der es immer neue Facetten zu entdecken gab, hatte ich die Gasse mit dem besagten Gasthaus immer noch nicht gefunden. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als einen Einheimischen nach dem Weg zu befragen, da es bald 12.00 Uhr war. Auf der Suche nach einer Auskunftsperson schien es mir, als sei die ganze Stadt nur von Touristen bevölkert. Nicht wenige Menschen versuchten, sich mit kleinen Stadt- oder Quartierplänen zu orientieren – sie starrten bei Kreuzungen an die Hauswände, um die verblichenen Straßenbezeichnungen zu entschlüsseln. Mir schien, ihnen erging es nicht anders als mir und sie suchten vergeblich nach dem richtigen Weg. „Gott“, dachte ich, „wenn jetzt ein Einheimischer auftaucht, wird er von vielen Suchenden gleich umlagert werden und von den vielen Fragen so verwirrt sein, dass er mit Sicherheit keine Antworten finden wird. Also, „folgerte ich, „begebe dich besser in eine Seitengasse, vielleicht in die Nähe eines Cafés, dort werden sich bestimmt Ortskundige aufhalten. Wenn ich in dem besagten Hotel noch ein Zimmer ergattern will, muss ich mich sputen, denn das Hotel soll durch seine günstigen Preise sehr begehrt sein.“ In der Seitengasse, deren genaue Bezeichnung ich nicht entziffern konnte, da zwei der Buchstaben auf dem in die Mauer des Eckhauses eingeprägtem Namensschild verwittert waren, fand ich tatsächlich eine Gaststätte, aus der laute Männerstimmen schallten, die sich gegenseitig zu übertönen suchten. Aus ihren erhitzen Gemütern zu schließen, ging es wohl um Politik oder Fussball, auf alle Fälle klangen die Stimmen aggressiv. Die Gasse war sehr eng und erlaubte die Durchfahrt von höchstens einem Auto oder einem Eselswagen. Vom anderen Ende dieser kleinen Gasse kam mir ein Müllfahrzeug entgegen, auf dessen Fahrerkabine ein gelbes Warnlicht blinkte. Ich überlegte, dass ein Müllfahrer die verschlungenen Wege dieser mittelalterlichen Stadt mehr als jeder andere kennen sollte, denn er musste auch aus den entlegensten Gässchen den Müll entsorgen, schon allein, um den möglichen Protesten der scheinbar heissblütigen Bewohner vorzubeugen. Um den Müllfahrer zu befragen, stellte ich mich also mitten auf die Straße und machte, auch als der helle Hupton dreimal erschallte, keinerlei Anstalten, auf die Seite auszuweichen, sodass der Fahrer nolens volens anzuhalten gezwungen war. Ich verbarg meinen Stadtplan hinter meinem Rücken, denn weitere ortsunkundige Touristen wären jetzt äusserst lästig gewesen, und wandte mich an den Fahrer, der mich aus den Augenwinkeln mit feindseligem Blick zu betrachten schien. Der Landessprache kaum mächtig, trug ich mein Anliegen stammelnd und nach Worten suchend vor, musste erkennen, dass mich der Fahrer nicht verstand, zog den Zettel mit der Adresse aus meiner Börse und hielt ihn dem Mann vor sein kantiges Gesicht, das er hinter dem Lenkrad wie hinter einer Burg zu verschanzen wusste. Er nahm den Zettel in die Hand, dann den Stadtplan, legte seine Stirn in tiefe Sorgenfalten, drehte den Plan und fuhr auf ihm mit dem Zeigefinger irgendwelche Straßen und Gassen ab. Ab und zu schüttelte er sein Haupt, drehte erneut den Adresszettel und Plan, schien verunsichert, schaute erst nach links, dann nach rechts, als erwarte er von den alten, verwitterten Hausmauern Unterstützung. Das gelbe Blinklicht war immer noch eingeschaltet und warf seine Schatten auch in das überfüllte, von den heftig diskutierenden Männern bevölkerte Café. Die hitzigen Diskussionen wurden, wie durch diese Schatten angetrieben, lauter und der erste, scheinbar mit Worten geschlagene Mann trat auf den Bordstein und verliess hängenden Kopfes das Lokal. Als er den verzweifelten Fahrer hilflos den Zettel und Plan in der Hand drehen sah, schöpfte er neue Hoffnung auf einen anderen Sieg, näherte sich dem Fahrzeug, grüsste, indem er einen Finger an sein in die Stirne fallendes pechschwarzes Haar, tippte und den Redeschwall des Fahrers über sich ergehen liess. Er schien aufmerksam zu verfolgen, was der Fahrer ihm berichtete, nahm darauf den Zettel und den Plan in seine Hände, starrte auf beides, als wolle er die Papiere einer Hypnose unterziehen, schüttelte seinen Kopf, zeigte mit spitzem Zeigefinger auf einen Punkt der Karte, zeichnete nun seinerseits auf dem Plan mit den Fingern einen Weg nach. Den Fahrer verleitete dies zu dem lauten Ausruf: „no!“, und er knuffte dabei den sich einmischenden Mann an die Brust, entriss ihm den Stadtplan, wobei der Zettel mit der Anschrift der Bleibe wie ein totes Herbstblatt kreisend zu Boden flatterte und in einer kleinen Pfütze irgendeiner Flüssigkeit landete. Mit Schrecken sah ich, wie sich die Adresse in blauen Schlieren aufzulösen schien und beugte mich rasch zu dem Papier und fasste es zwischen Daumen und Zeigefinger. Doch schon entwand mir der Fahrer den für mich so wertvollen Zettel. Aufgeschreckt durch das Geschrei des Fahrers, strömten die Streithähne aus dem Café, umringten den Müllwagen, der immer noch blinkte, begannen sich in die Diskussion einzumischen, wiesen bald in die eine, dann in wieder in die andere Richtung und nahmen Partei für den Fahrer oder seinen Kontrahenten, welchen sie erst vor wenigen Minuten als Verlierer in die Flucht geschlagen hatten. Die Argumente für den einen oder anderen Weg wurden immer heftiger vorgetragen, ein Stimmen-Tohuwabohu entstand, die Töne wurden schriller und aggressiver und waren jetzt wesentlich lauter und ernster als bei der schon sehr heftigen Auseinandersetzung im Café. Als dann Handgreiflichkeiten einsetzten, bekam ich es mit der Angst zu tun und versteckte mich hinter einem Torbogen, unter dem ich mit wachsendem Entsetzen die Prügelei beobachtete, bei der jetzt sogar Blut floss. Ein älterer, grauhaariger Herr mit Jacke und Schlips, lag bereits im Staub, blutete aus einer Wunde an der Hand und hielt mit schmerzverzerrtem Gesicht sein linkes Handgelenk. Der Fahrer des Lastwagens hatte seine Warnblinkanlage vom Wagendach ausgeklinkt und schlug damit wild um sich. Gespenstisch war das anzusehen, wie Körper und Gesichter seiner Gegner kurz hintereinander in gelbes Licht getaucht und alsdann augenblicklich wiederum im Schatten verschwanden. Glas splitterte, Schmerzensausrufe ertönten und sogar die Hiebe, welche auf Körper prasselten, erzeugten ein dumpfes Geräuschn einer kurzen Pause neue Kraft, um nach kurzer Zeit umso heftiger fortzufahren. Hilflos und mit schlechtem Gewissen stand ich am Rande des Taifuns und machte mir den Vorwurf: „Was hast Du da nur angerichtet, das kann doch nicht wahr sein.“ Plötzlich fühlte ich eine kleine Kinderhand, die meine drei mittleren Finger meiner eher grossen Hand umschloss und fest daran zog. Überrascht blickte ich nach unten und sah den blonden Schopf eines Dreikäsehochs. Dieser zerrte an mir und rief mit heller Stimme: „Komm, ich zeige Dir den Weg, wir haben keine Zeit zu verlieren." Obwohl mich die Schlacht vor dem Café gedanklich nicht in Ruhe ließ, gab ich dem Drängen des Kindes nach und ließ mich von seiner zarten, aber festen Hand durch Gässchen und Straßen führen, wir überquerten Plätze und Avenuen und standen schliesslich in einem weit abgelegenen Quartier - so schien es mir nach dem langen Gang jedenfalls - vor einer eher verfallenen Fassade, an der Sandstein von den Fenstersimsen bröckelte. Erst jetzt erblickte ich den Namen des gesuchten Gasthauses auf der ziselierten Eingangsholztüre. Die Kinderhand hatte sich von meinen Fingern gelöst und das Kind war entschwunden, ohne dass ich es richtig bemerkt hatte. Ich hob den schweren eisernen Türklopfer, welcher an der rechten Seite der Türe kunstvoll, nach den Gesetzen des goldnen Schnittes befestigt war - solche Einzelheiten der Kunst aus früheren Zeiten beeindruckten mich stets auf Neue. Dumpf dröhnte der Klang nach Innen und augenblicklich stieß eine junge hübsche Dame das Tor auf. Sie schien, gemessen an der Geschwindigkeit ihres Handelns, nur auf einen Gast zu warten. Sie führte mich zu ihrem Stehpult in der Eingangshalle, nahm meine Personalien aufnahm, zeigte mir ein traumhaftes, wunderbares, altes Zimmer zu einem lächerlich günstigen Preis und sprach mit glockenreiner Stimme: "Ist das okay?". Das „okay“ erklang in der besonderen Atmosphäre wie eine Faust aufs Auge. Ich nickte nur, sie übergab mir zwei Schlüssel, einen mächtigen für das Eingangstor und einen kleinen für das Zimmer, welches von aussen die Nummer dreizehn zierte. Sie klärte mich darüber auf, dass die kolossale Eingangstüre stets abgeschlossen sei. Ich legte meinen Reiserucksack auf das Bett und erklärte, dass ich noch Besorgungen zu erledigen habe. Der durch mich angezettelte Kampf vor dem Café liess mich nicht in Ruhe. Neugierig wollte ich den Ausgang der Auseinandersetzung mitbekommen und eilte zurück zur Stadtmitte. Friedlich lag das Café da, aus seinem Inneren tönten laute Stimmen, eine politische Diskussion schien im vollen Gange. Als ich in der Ferne das gelbe Blinken eines Müllwagens sah, ergriff ich stande pedes die Flucht und drückte mit der zur Faust geballten Hand in meiner Hosentasche die beiden mir übergebenen Schlüssel vom Gasthaus.