DAS FREMD-WÖRTER-BUCH EIN FAST-READ-ROMAN Rolf wollte die Welt verstehen. So vieles war ihm fremd. Verstand er nicht. Ängstigte ihn. So begann er, Fremd-Wörter- Bücher zu kaufen. In allen Sprachen. Auch in denjenigen, die er nicht verstand. Hauptsache, es waren Fremd-Wörter-Bücher. Der Besitz dieser Bücher machte ihn sicherer. Denn nun konnte geschehen, was wollte, was Rolf nicht verstand - ein Blick auf seine Bibliothek gab ihm die Gewissheit, dass des Rätsels Lösung in einem der unzähligen Fremd-Wörter-Bücher liegen musste, die er besass und die ihm ohne Zweifel persönlich zu Besitz gehörten. Jedes Mal, wenn er in seinen Bücherschrank blickte, umgab ihn ein warmes, sicheres Gefühl. Doch - und dies war eindeutig das Haar in der Suppe - empfand er dieses Sicherheitsgefühl nur in seiner Wohnung, im Anblick seiner unzähligen Fremd-Wörter-Bücher. Draussen, sobald er die Türe seiner Wohnung zugeschlossen hatte, draussen umgab ihn gleich wieder Unsicherheit, ein grosses Fremd-Gefühl. Da es nicht möglich war, all die vielen Bücher - sie wogen bestimmt einige Tonnen, denn Fremd-Wörter-Bücher waren per Definition dick und schwer - mit sich herumzutragen, sann Rolf auf Abhilfe. Einer seiner besten Freunde war zum Glück Chemikant. Von ihm lieh er sich etliche Bunsenbrenner, Reagenzgläser, Trichter, Kocher, Zangen und weiteres Gerät, verlangte für 16 Tage, ohne die Wochenenden mitzuzählen, bei seinem Arbeitgeber Ferien, besorgte für drei Wochen Lebensmittel - meist in flüssiger Form, die Milchprodukte hyperisiert, der Haltbarkeit wegen - und schloss sich in seine Wohnung ein. In seiner Küche errichtete er ein richtiges Labor - das Wissen hatte er sich in einem Schnellkurs angeeignet -, stellte den speziell gekauften Fünfliterdampf- kochtopf auf, zerschnipselte alle Fremd-Wörter-Bücher in nullkommafünf Quadratzentimeter grosse Schnitzelchen - sie füllten bald einmal sein Wohnzimmer vom Boden bis zur Decke begann sie im Dampfkochtopf zu kochen, extrahierte den Inhalt mittels der Laborinstrumente zu einem dicken, schwärzlichen Saft, dem er mit Hilfe des Bunsenbrenners die Flüssigkeit so weit entzog, dass eine gallertartige Masse übrigblieb, die er nun in eine Flasche abfüllte, in der früher ein Segelschiff kunstgerecht aufgebaut war - erstanden von einem Seemann an einem Flohmarkt in der nahen Hafenstadt -, nachdem er das Segelschiff mittels einer nach stundenlangem Suchen in einem Spezialge- schäft erstandenen langen Pinzette Hölzchen um Hölzchen entfernt hatte. Nachdem das letzte Fremd-Wörter-Buch gekocht, das Wissen verdickt und abgefüllt, war die Flasche zu Dreivierteln voll und vom Gewicht her nicht schwerer als eine halbvolle Flasche Bier, so dass Rolf diese nun überall mitführen konnte, sei es in einer Tragtüte oder in der Jackentasche, was er jedoch nur im Notfall tat, könnten doch die Mitmenschen sonst zu falschen Schlüssen kommen. Rolf war fortan ein durch und durch glücklicher Mensch, fühlte sich in Anwesenheit seiner Fremd-Wörter- Bücher-Flasche auch ausserhalb seiner vier Wände äusserst sicher. Das Fremde bewältigte ihn nicht mehr. Er bewältigte das Fremde!