Aus meinem 2009 erschienen Buch Grossvatergeschichten Prospero Verlag München ISBN: 978-3-941688-01-8 Grossvaters Meehr Grossvater liebte das Meehr. Sein Meehr. Er schrieb und sprach es mit einem gedehnten »e« verlängert durch ein ellenlanges »h«, denn er wollte immer mehr von seinem Meehr, bekam nie genug Meehr. Und so entstand Grossvaters Meehr. Grossvater wollte, als er jung war, Seemann werden. Auf einem Ozeandampfer Kapitän. Herr über Leben und Tod von Menschen und Maschinen. Dem alle zu gehorchen hatten. Maschinen und Menschen. Der Ehen schloss. Der zu Gerichte sass. Und stolz in Häfen einfuhr. Abschliessende Befehle in Orkanen gab. Bei Schiffsbruch, nach wundersamer Rettung aller Insassen des Navires – wie er seinen fiktiven Dampfer nannte –, als letzter von Bord ging. Dessen Wort von niemandem angezweifelt wurde. Unter gar keinen Umständen. Auch nicht von seinem kleinen Enkel. Der bewundert wurde von allen. Den Schiffshund eingerechnet. Der abends an der Kapitänstafel Hof hielt in schmucker Galauniform. Allein unterbrochen von wichtigsten Brückenpflichten, die ihn den begehrenden Blicken der Damenwelt für kurze Zeit entzogen. Sein Jugendwunsch erfüllte sich niemals. Mit Ausnahme der Herrschaft über die Gräser und Pflanzen seines wilden Gartens hatte er in seinem Leben immer anderen zu gehorchen. Grossvater erkletterte niemals die Sprossen irgendeiner noch so banalen Lebenslaufbahn. Und doch erfüllte er sich seinen Jugendwunsch. Bei bedecktem Himmel und stürmischen Winden setzte Grossvater sich an seinen Steintisch, öffnete den schon vergilbten alten Schuhkarton, den er zuvor des Kellers Düsternis entzogen hatte, entzogen seinem dunklen kühlen Keller, den Grossvater und ich so liebten, barg er doch Schätze, unbeschreibliche Schätze, Schätze, die weder in Geld zu messen noch in Gold aufzuwiegen waren. Sorgfältig, als sei die Schachtel die Wiege eines neugeborenen Kindes, öffnete Grossvater sie. Vorsichtig hob er jeweils den Deckel ab und beschwerte ihn mit einem Gartenstein, denn der Wind blies bei der Kapitänszeremonie immer durch alle Steintischritzen, verschonte, auch nicht auf dem Steintisch, kein noch so geringes Blatt, geschweige denn ein Stück Papier. »Meehrwetter«, sagte Grossvater mit tiefster innerer Befriedigung, entnahm der Schachtel zunächst eine marineblaue, kordelgeschmückte Kapitänsmütze, die er sich tief über die Ohren zog. Ich liebte den Anblick meines Kapitängrossvaters. Er hat sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt. Wenn ich die Augen schliesse, sitzt Grossvater Kapitän stets vor mir. Auch jetzt, wenn diese Zeilen, die hoffentlich der Meehrsturm nicht verweht, gelesen werden. Als nächstes entnahm Grossvater dem Karton eine an verschiedenen Stellen bereits abblätternde Emailschüssel, welche er vor Jahrzehnten auf einem Flohmarkt in der nahen Stadt erworben hatte, füllte sie mithilfe eines altertümlichen Schöpfers, der für das Wasser-über-den-Kopf-Giessen in der Regentonne unter der Regentraufe stand, mit Wasser, leerte aus einer besonderen Büchse, auf der Meeresbrecher abgebildet waren und die im Küchenbuffet, einem duftenden alten Möbel, stand, exakt dreieinhalb Handvoll Salz – natürlich grossvaterhandvoll, und das war nicht wenig – in die Schüssel, rührte mit seinem dicken Daumen im Emailgefäss, kostete das Wasser auf der Zunge und gab durch lautes Brummen zu erkennen, dass nun Grossvaters Meehr zu neuen Abenteuern, welche bis in den frühen Morgen dauern würden, bereit sei. Aus der hintersten Ecke des früheren Schuhbehältnisses holte Grossvater nun das wichtigste Requisit seiner Meehrabenteuer hervor, eine sorgfältig in Seidenpapier eingewickelte halbe Nussschale, welche – so erzählte mir Grossvater immer wieder – von einem Nussbaum stamme, den sein Grossvater vor Jahrzehnten gepflanzt, schon lange, weil unfruchtbar, gefällt und der in seinem Leben nur eine einzige Nuss hervorgebracht habe – eine Nuss, die umso wertvoller sei, da sie ihm von seinem Grossvater anvertraut worden und schon deshalb eine schützenswerte Seltenheit sei, da wohl kaum ein anderer Nussbaum auf dieser Erde nur eine einzige Nuss hinterlassen habe. Denn die Regel laute doch: unzählig viele oder keine. Eine einzige, das sei kaum jemals vorgekommen. Nun konnte Grossvaters Leben als Kapitän beginnen. Seine Augen wurden bald steinig hart, bald samtig weich. Er ass ein mit Olivenöl getränktes, hartes Brot, das er Schiffszwieback nannte, brüllte Befehle, gab höflich Auskunft. Ich konnte seiner Phantasie bald nicht mehr folgen, die Ereignisse überstürzten sich, Schiffbruch, Kiellegung, Kapitänsprüfung und Eheschliessung gerieten durcheinander. Grossvaters Gesicht wurde mal grün vor versteckter Seekrankheit, dann wieder litt er unter Beriberi, er trank in grossen Seemannsschlucken Rum, klopfte mit seiner Pranke auf den Steintisch, dass sein Meehr nur so hüpfte, die Wellen haushoch wuchsen, gefolgt von einer stillen, ruhigen See im Auge des Taifuns. »Meehr, Meehr, Meehr!«, schrie Grossvater nun in Extase, um erst bei Dämmerung frühmorgens über seinem Steintisch einzuschlafen, erschöpft in Meehrestiefe abzugleiten, träumend voll Freude von dem nächsten Sturm, den er gewiss mit Meisterhand beherrschen würde. Als ich Grossvater eine grosse Freude machen wollte und ihm von meinen Schätzen ein Plastikbötchen brachte, das ich Wochen zuvor am Boden einer in der Bäckerei erworbenen Plundertüte gefunden hatte, schalt Grossvater mich einen Tor und einen Narren. Gut gemeint sei das Geschenk, vor allem der Gedanke wertvoll, aber wie sollte er, Grossvater, seine Träume leben? In Kunststoff oder in echtem, wahrem, gewachsenem Holz? Ich solle wählen. Zwischen Natur und Menschentand. Solle entscheiden, wo die inhaltsreichen Träume wachsen. Ich entschied mich für ein Leben lang. Grossvaters Nussschale hat auf meinem Schreibtisch einen Ehrenplatz. Sie lässt mich träumen. Von Grossvater. Vom Meehr des Lebens. 2