Des schönen Frühjahrs und weil ich Rhabarber so gerne mag ein Beispiel aus den Grossvatergeschichten Verlag: Prospero, Autor: François Loeb, Erscheinungsjahr 2009, ISBN 978-3- 941688-01-8 : Grossvaters Rhabarberfeld Wenn Grossvater Rhabarber ass – er nannte das stielige Kraut stets Rhübarbre und umschrieb es als einziges in unserer Welt vorkommendes Dessertgemüse; das Wort sprach er so aus, dass ich zum Schlusse kam, er sei ob dieser Klänge tief gerührt –, verzog er sein Gesicht, kniff seine Augen zu Sehschlitzen, bekam sonst nie gesehene Fältchen um den Mund und sah für mich, seinen kleinen Enkel, umwerfend neu und anziehend aus. Jede dieser kleinen wunderwitzigen Rillen, die beim Rhübarbre-Schmaus, wie von einem Vulkan ausgeworfene, bereits angetrocknete Lava, auf seinem Angesicht erschienen, hätte ich, wäre ich ein Mädchen gewesen, liebend gerne einzeln liebkost. Obwohl mein Gaumen den Rhabarber seiner Säure wegen verabscheute und ich Grossvater bei dem von ihm geliebten Schmaus nur zusah, konnte ich mich dabei nie sattsehen. Auch Grossvater störte die Säure des Rhübarbre, er streute jeweils ein halbes Pfund Zucker über Rhübarbrekuchen oder -mus. Doch wenn er sein Dessertgemüse als Stängel ass, was vor allem im Frühjahr beim ersten Ernten der Fall war – Grossvater konnte das Ausreifen schlicht nicht erwarten und erntete bereits die kaum der Erde entschlossenen jungen Stängelsprösslinge –, misslang ihm regelmässig die Zuckerapplikation; die süßen Körner kullerten, so sehr Grossvater sich auch bemühte, den lästigen Schwerkraftregeln folgend, einfach vom Stängel. Und so beschloss Grossvater, seinem Rhübarbre die Säure auszutreiben, endgültig auszutreiben, ein für alle Mal. Tagelang sass mein Grossvater an seinem Granitsteintisch auf dem Sitzplatz neben der Küche. Der Tisch stand da mit bekritzelten, klein karierten, losen Blättern übersät – Gross- vater behauptete, nur darauf konzentriert arbeiten zu können –, brauchte er doch einen Halt im Leben, vor allem beim Problemelösen, beim Neue-Wege-Finden und ganz besonders, wenn es sich um eine so vertrackte Frage handelte, wie seinem heissgeliebten Rhübarbre die Säure auszutreiben sei, eine selbst gestellte Aufgabe, deren Früchte der Vereinfachung seines künftigen Lebens er noch manche Jahre seines Alters und nur seines eigenen Alters zu geniessen gedenke. Denn er denke nicht im hintersten Hirnwinkel daran, seine Erfindung, sei sie denn einmal erfunden, irgendjemandem zu enthüllen, nicht einmal mir, seinem geliebten Enkel, was meine Neugier über eine an sich für ein Kind banale Frage ins Unermessliche steigerte. So beobachtete ich den Schöpfungsvorgang haarspaltgenau, liess Grossvater nicht aus den Augen, geschweige denn aus den Augenwinkeln. Ich quälte mich des Nachts mit Oberflächenschlaf, weigerte mich, in Traumtiefe zu sinken, um ja nicht das geringste Rascheln zu überhören, das eine nächtliche geheime Tätigkeit aufzeigen würde. Dicke dunkelschwarze Augenschatten waren der einzige Lohn meines Tuns. Grossvater kam bald zur Überzeugung, ich sei schwer krank und wollte mich zur Mutter schicken, sodass ich schliesslich die Welt der tiefen Träume zur Aufhellung der Augenschatten wieder aufzusuchen hatte; nicht ohne vorher jeden Abend einen feinen weissen Faden an Grossvaters Schlafgemachstürklinke festgezurrt zu haben, sobald er diesen Raum betreten hatte, um zu Bett zu gehen, den weissen Faden dann verbindend mit meinem linken grossen Zeh – er war, wohl ein Zufallstreffer der Natur, weit empfindlicher als der rechte –, um mich aus dem Schlaf zu reissen, sollte Grossvater je nächtlichen Rhübarbretätigkeiten nachgehen. Denn das Geheimnis, das Grossvaters Kopf entspringen würde, sich als seines Geistes Kind nun formte, Stück um Stück sämtliche Stadien der Geistesevolution durchlief, als sei es ein Fötus im Mutterleib, musste ich, davon war ich fest überzeugt, bei seiner Geburt erhaschen, würde sich das Geheimnis doch sonst in der Unendlichkeit verlieren. Grossvaters süsser Rhübarbre wurde zum Mittelpunkt meines kindlichen Lebens. In meinem tiefen Schlaf fischten Grossvaters weisse Barthaare, tiefgebeugt über Riesenmeeresbrechern, nach geheimen Ingredienzien der Ozeanböden, entriss er dem Mann im Mond ein mit Hieroglyphen dicht beschriebenes Pergament, schüttelte und wusch im fernen Himalaya mit einer silbernen Goldwaschpfanne Buchstaben aus dem Schnee, fing, durch den Weltraum sonnensegelnd, hüpfend von Stern zu Stern, Meteoren ein, um in ihrem Schweif zu lesen, zerbarst gar den Granitsteintisch, um aus seinen Sedimenten neue Schlüsse oder Spuren zu erfahren. Doch wenn ich jeweils zehenlängs in die Dämmerung des jungen Morgens wachgezogen wurde – Grossvater verliess sein Zimmer beim Morgengrauen –, hatte sich sichtbar nichts verändert. Ich fand Grossvater an seinem Steintisch sitzend, in Denkerpose mit rhübarbregeschlitzten Augen, die Haare seines Bartes waren trocken und unzerzaust, der Granittisch ganz, nicht einen ausgewaschenen Buchstaben konnte ich erkennen, nur das Gekritzel, das er Vorabends dem Mondlicht übergeben hatte, damit es Nachtens reife, lag unverändert auf dem Tisch. Als Grossvater im November begann, sein Rhübarbrefeld, das er vor Jahren in rhombischer Form – auch dies ein fehlgeschlagener Versuch zur Versüssung seines Lebensabends – sich angelegt hatte, mit dem Inhalt grosser, tonnenschwerer Zuckersäcke zu vermischen, am Rhombenende Zuckerrohr anpflanzte, glaubte ich, dem Geheimnis auf der Spur zu sein, wurde aber bei Frühjahrssonne drei Monate später herb enttäuscht, als Grossvater in den ersten, seinem Rhübarbreacker entzogenen, jungen Stängel biss, das Gesicht verzog, beide Augen kniff und die Rhübarbre-Fältchen erneut erschienen. Grossvater übte noch lange. Doch das Geheimnis blieb. Der Gedankenfötus wollte nicht mehr wachsen. Jahr für Jahr verzog Grossvater sein Gesicht. Mein eigener Rhübarbre-Lösungsdrang verflog dann mit den Jahren, zu viel des Lebens stürmte auf mich ein. Grossvater beschäftigte er aber weiter. Bis zum Ende seines Lebens. Kisten voller bekritzelter karierter Blätter, die ich in seinem Keller fand, waren beredte Zeugen seines Strebens, sein Geheimnis – das Geheimnis seines Lebens – einer Lösung zuzuführen. Oder beschäftigte ihn die Angst, das Geheimnis zu verlieren, so stark, dass er den Rhübarbre mit ins Grab nahm? Seine letzte Ruhestätte fand er, seinem letzten Wunsch entsprechend, im Rhombus, dessen Pflege, im Zwiegespräch mit ihm, mir noch heute Lebenskraft vermittelt. Mir, seinem Enkel blieb es vorenthalten, das Geheimnis zu lüften. Am eigenen Leib die Rhabarberlösung zu erleben. Und das kam so: Jedes Frühjahr, beim ersten Spriessen der roten Stängel, zog ich aus dem Boden einen jungen Rhabarberspross aus Pietät und im Gedenken. In Gedanken an Grossvaters Grösse, seine hünenhafte, lebensweisende Gestalt, biss ich herzhaft in das Dessertgemüse und verzog mein Gesicht. Meine Augen wurden zu Schlitzen, wohl kamen mit der Zeit auch noch die Fältchen auf, bis eines Frühlingstages ich, bereits in fortgeschrittenem Alter, dasselbe tat nach dem Genuss einer auf dem Markt erworbenen Frucht des Zitronenbaumes, die ich so liebte – ein absonderlicher Zug meiner Gaumenfreuden. Und siehe da, der Rhabarber von Grossvaters Acker schmeckte süss, ganz ohne Zucker, ein wahrer Sinnenschmaus der Unendlichkeit. Aus Dankbarkeit ob der Erkenntnis, Grossvaters Gedankenkind das Licht der Welt gezeigt zu haben, vergrub ich einen Zitronenkern in Grossvaters rhombischen Rhübarbreacker und hoffe nun, dass ein Zitronenbaum daraus wachsen wird, der uns beiden die Ewigkeit versüsst.