Gerade von einem Venedig aufenthalt zurückgekehrt hier eine Kurzgeschichte aus dem Buch Der Organist von San Marco und weitere venezianische Geschichten ISBN 978-3-941688-19-3 Shark Club e. V. Überall zieht Englisch ein. Selbst in Venedig. Diese Amerikanisierung ist kaum zu fassen, denke ich im Vaporetto-Gastraum sitzend, während links und rechts die Palazzi des Canal Grande langsam an mir vorüberziehen. Gleichzeitig versuche ich, die kulinarischen Empfehlungen meines venezianischen Freundes Carlo zu entziffern. Er ist Mediziner und ziert sich mit der entsprechenden arzneimittelrezeptfähigen Schrift. „Unleserlich“, murmele ich vor mich hin, Carlo hätte ruhig nicht nur die Namen der lukullischen Tempel in Druckbuchstaben schreiben können, sondern den ganzen Text. Denkt der Kerl etwa, ich sei ein Hieroglyphen-Knacker? Da habe ich lieber Schalentiere auf meinem Teller, und ob meiner Gedanken lache ich laut vor mich hin, sodass die übrigen Fahrgäste sich nach mir umsehen und einen mitleidigen Gesichtsausdruck aufsetzen, der ohne Worte ausdrückt, was sie denken. Nein, ich bin nicht verrückt, könnte ich ihnen zurufen, aber meine Italienisch-Kenntnisse sind dafür zwar den Kinderschuhen entwachsen, stecken aber immer noch im Flegelalter. Also begnüge ich mich mit einem weiteren Lacher, setze meine Brille ab, fahre mit der Hand über mein Gesicht, spitze die Lippen, deute einen Kuss an, murmele vor mich hin: „Sollen die Mitmenschen doch von mir denken, was sie wollen! Ich weiss ja, dass mein Geisteszustand mehr als in Ordnung ist, mit jedem meiner Mitpassagiere jedenfalls kann ich es locker aufnehmen.“ Shark Club. Mit Mühe entziffere ich darunter: Unverdingt anmelken, oder heisst das: unbedingt anmelden? „Ach Carlo, deine Schrift ist eine wahre Zumutung!“, rufe ich ihm telepathisch zu, denn ich glaube an diese Art der Kommunikation, habe sie bereits so oft erlebt, dass ich die von so vielen Menschen belächelte Verständigung nicht einfach mit der linken Hand, wie einen vereinsamten, verirrten Brosamen wegwischen kann. Shark Club, da will ich heute Abend speisen. Doch anmelden? Es ist bereits zwanzig Uhr zwanzig. Jetzt anmelden, das bringt nichts mehr. Ich versuche es einfach aufs Geratewohl, und da es Montagabend ist, werde ich bestimmt noch ein kleines Eckplätzchen im Lokal finden, besonders auch weil die Touristen ja meistens schon um sieben Uhr zu Abend essen gehen und dann vor neun, gesättigt und mit vom venezianischen Wein geröteten Wangen, den Heimweg unter die leise schwankenden Füsse nehmen. Ach, wenn ich nur wüsste, wie ich zu dieser Calle Pizaconte gelange! Am besten erkundige ich mich beim Kapitän des Vaporetto, doch der wehrt mich wie eine lästige Schmeissfliege entschieden ab und bemerkt, ich solle mich doch an die Policia wenden, die wüssten Bescheid, oder mir einen grossen Stadtplan leisten, in dem auch noch die winzigsten Calles verzeichnet seien. Ich steige beim Ponte Rialto aus, befolge des Schiffsführers Rat, besorge mir den Stadtplan, versuche den Weg zum Shark Club auszutüfteln, verlaufe mich ein Dutzend Mal, kein Venezianer kennt die Calle, und erst als ich nach dem benachbarten Campo frage, huschen Lächelblitze über die meist gestrengen Gesichter der Einheimischen, und mit „geradeaus“, „die nächste links“, „dann drei Brücken, anschliessend rechts und nochmals rechts“ zeigen sie mir an, dass ich nicht allzu weit von meinem Ziel entfernt sein kann. Endlich, es muss bereits nach neun sein, stehe ich vor dem Lokal. Dicke Kerzen – so dicke habe ich noch nie erblickt, sie müssen an die sieben Nächte brennen können – erleuchten die Pforte zum Restaurant und weisen mir den Weg ins Innere. „Ah“, werde ich begrüsst, „Sie haben sich wohl verspätet, Signore, der Maestro wartet bereits auf Sie.“ Ich versuche das Missverständnis aufzuklären, bestehe darauf, dass ich nicht angemeldet sei und einzig aufs Geratewohl hier auf Empfehlung meines Freundes für ein Nachtmahl anklopfte. Mit einer ähnlichen Wischbewegung wie der Kapitän des Vaporetto entfernt der mit einer langen weissen Schürze umgürtete Kellner meine Bedenken und erwidert: „Keine Angst, der Herr, wir werden Ihre Anonymität zu wahren wissen.“ Ich beschliesse, mich nicht auf ein langes Wortgefecht einzulassen, denn mein Magen knurrt, und beim Andrang, der im Inneren herrschen muss – wir stehen ja erst im Vorraum des Lokals –, würde ich doch noch beträchtlich auf die Befriedigung meines Hungerstillbedürfnisses warten und somit jede nutzlos vergeudete Minute hungernd büssen müssen. Wie erstaunt bin ich jedoch, als der Vorhang des Vorraums mit einem lauten „prego“ elegant beiseite geschoben wird und ich in einen Gastraum blicke, in dem zahlreiche akkurat mit weissem Linnen gedeckte Tische stehen, aber kein einziger Gast zu sehen ist. „Diesen Platz haben wir für Sie vorgesehen“, der Kellner bringt mich an ein rundes Tischchen unter der Lichtkuppel des Raumes. „Sie wissen ja“, hebt er in einer Singsang- Sprache, die wie einstudiert und doch natürlich melodisch klingt, „Sie wissen ja, der Shark Club ist für die Frische seiner Ware stadtbekannt, deshalb können Sie von Glück sprechen, dass ein Tisch für Sie zur Verfügung steht. Üblicherweise wartet ein Gast bis zu sechzehn Monate auf eine Bestätigung seiner Reservation. Aber zu Ihrem Vorteil hat sich eine Lücke aufgetan, einer unserer prominenten Gäste ist krankheitshalber ausgefallen, und da wir wissen, dass Sie ein grosser Fischfreund sind und auch darüber öfter schreiben, hat die Leitung des Clubs Sie für heute Abend auserwählt. Sie kamen sozusagen genau im richtigen Moment. Ein Zeitfenster hat sich für Sie geöffnet, ein Fenster mit der allerbesten Aussicht“, und der Mann strahlt jetzt mit halboffenem Mund mit den auf der Speisekarte abgebildeten Fischen um die Wette. Lachende Fische, denke ich, auch eine Idee! Nun, in so ein ungeplantes kulinarisches Abenteuer hineinzuschlittern, ist etwas Besonderes. Ich werde mir alles für mein kommendes Buch Geschichten, die Venedig schrieb fein säuberlich auf der Rückseite der Speisekarte notieren, der in Venedig kredenzten schweren roten Weine wegen eine weise Entscheidung, bemerkt meine stumme, mit allen Rezeptoren empfangsbereite, aber noch reglose Zunge zu meinem auf die Dinge, die da kommen sollen, wie ein Uhrwerk, auf Hochspannung hinarbeitenden Hirn, das meiner rechten Hand ganz ohne Zeitverzögerung den Befehl zum Schreiben übermittelt. „Also“, hebt der weissbeschürzte Kellner wieder an, „also, die Auswahl können wir auf der Karte nicht vollständig wiedergeben, deshalb empfehlen wir den frühen Gästen“ – wie ich um fast einundzwanziguhrvierzig ein früher Gast sein kann, der im immer noch leeren Gastraum sitzt, ist mir unergründlich –, „den frühen Gästen empfehlen wir als besonderes Privileg, damit sie nicht so lange auf die Komponierung ihrer kulinarischen Symphonie zu warten haben, empfehlen wir also die Besichtigung des Vivariums, einer lebenden, spritzenden, Wellen schlagenden Speisekarte sozusagen, in der so zahlreiche Arten zu verzeichnen sind, dass wir, um die Vielfalt der schwimmenden Köstlichkeiten zu erklären, den Dienst von Zoologen beizuziehen hätten.“ Um Himmels willen, denke ich, der Kerl verdirbt mir mit seinen komplexen Schachtelsätzen den Appetit, und dennoch stehe ich auf, folge ihm zum Vivarium, schon nur, um seine Wortkaskaden zu beenden. Doch weit gefehlt! „Der Herr sollte noch vorher den Abort aufsuchen.“ Was für eine veraltete Ausdrucksweise, denke ich, und ein unsichtbares Lächeln erscheint um meinen inneren Mundwinkel, während ich mich äusserlich würdig und gesetzt an diesen Ort begebe, um meine Notdurft zu verrichten. Wenn schon altertümlich, dann auch richtig – verflixt, ich denke auch bereits in diesen ineinander geschobenen Wortkonstruktionen, ich, der Meister der kurzen, knappen Sätze, für die ich schon mit zwei ansehnlichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Also verrichte ich auf dem nach neuesten Erkenntnissen gestylten Abort, was Not tut, mit einem zunehmenden, unmissverständlichen Hungergefühl. Der eingebaute Wasserstrahl der Klosettschüssel trifft mich unvorbereitet und hart. Wieder so eine neue Erfindung, die nicht zur altertümlichen Bezeichnung des Locus passt, wandert auf Samtpfoten ein Gedanke durch meinen Kopf und wird gleich in Buchstaben zu Papier gebracht – die Speisekarte habe ich weislicherweise vorhin in meine Busentasche gesteckt. Ich stehe auf, begebe mich jetzt noch hungriger und mit wachsender Erwartung zum Ausgang des Aborts hin, die Tür öffnet sich wie von Zauberhand, ich erblicke ein riesiges Aquarium, in dem ein sicherlich zwei Meter langer Hai mit weit geöffnetem Maul und blitzenden Zahnreihen nervös und, wie mir scheint, selbst ausgehungert, rasend schnell, Wellen und Gischtspritzer aufwerfend, hin und her schwimmt. „Ja, ja“, sagt der mich wieder in Empfang nehmende Kellner, „haben Sie Ihre Hände auch sauber gewaschen? Unsere Besitzer legen höchsten Wert auf Hygiene. Sie sind hungrig und freuen sich auf Ihr Mahl. Sie sind erwählt, eine besondere Ehre ist Ihnen widerfahren!“ Schreibt man nach Duden widerfahren mit „ie“ oder nicht? Und stehen die Großbuchstaben der Höflichkeitsform an der richtigen Stelle? Diese Gedanken beschäftigen mich, während ich fühle, wie ein Netz über mein Haupt gestülpt wird, oder ist es ein Käscher? – es geht bei einer gut recherchierten Kurzgeschichte nichts über die Wahl der richtigen Begriffe –, und der Kellner …, nein, ich glaube es nicht, er hat Kiemen …