Kurzgeschichte der Woche

Buchstabenfall

“Hochmut kommt nach dem Fall”, bemerkte der leicht übergewichtige Mann mit dem großen Schnauzer und dem Monokel im linken Auge. “So lautet doch das Sprichwort oder etwa nicht?” Sollte ich ihn bloßstellen? Nein, in diesem Aufzug der 20 er Jahre des letzten Jahrhunderts musste mit ihm etwas nicht stimmen. Oder war er ein Gaukler? Ein Bettler gar der auf einer neuen Masche ritt. Aber nicht bei mir. Da würde er sich eine Fallmasche holen. Durfte ich so streng sein? War das gerecht? Vielleicht war er ja ein Psychiatriepatient? Jedenfalls ein aus der Norm gefallener. Doch was ist normal? Ich? Kann ich mich so bezeichnen? Habe ja auch meine Macken. Meine Besonderheiten die manche Menschen als nicht in der Norm bezeichnen würden, sollten sie diese wohl verborgenen Eigenheiten, erkennen. Also nicht korrigieren. Ihm seinen Hochmut nach dem Fall lassen. Obwohl er vor dem Fall stattfindet. Dem Herrn seine Verkleidung gönnen. Falls er sich darin wohlfühlen sollte. Doch meine Neugier war geweckt. Wollte einfach erfahren was hinter dieser Fassade stecken würde. Versuchte ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Sah erst jetzt unterhalb seines rechten Auges eine lange fleischrosarote Narbe. Musste von einem Unfall herrühren. Alles klar, dachte ich sofort. Dachschaden. Nun wollte ich unbedingt den Hergang seines Unglücks erfahren. Aus der Zeit gefallen war er ja.

Aber wo war das geschehen? Woher die lange Narbe. Jetzt erkannte ich zudem, dass diese heftig pulsierte, als würde sie ein Fenster zu seinem Herzen sein. Herzoperation im Gesicht? Nein, das war nun wirklich nicht möglich. So überlegte ich mir den erfolgreichsten Weg hinter seine Narbengeschichte zu kommen. Begann: “Darf ich Sie zu einem Kaffee im Speisewagen einladen?” Ach ja, vergaß ganz zu erzählen, dass diese Begegnung in einem 2. Klasse Wagen des Hochgeschwindigkeitszugs der mich nach Paris bringen sollte stattfand. Er zog seine Stirne kraus. Dabei pulsierte die Narbe etwas rascher und dann kam ein befreiendes “Jaahhh” über seine gekräuselten Lippen, dadurch fiel ihm das Monokel aus dem Auge, pendelte nun auf seiner Brust hin und her. Wir standen gemeinsam von unseren bequemen Sitzen auf. Durchquerten an die acht eleganten Waggons des Zugs, der mit über 300kmh dahinraste, bis wir unser Ziel erreichten. “Deux petit cafés” bestellte ich. “Ohh”, bemerkte mein Gast, “wie freue ich mich auf den Kaffee, seit beinahe 10 Jahren sehne ich mich danach. Obwohl”, jetzt entstand eine längere Pause in der ich konzentriert meines Gegenübers Narbe betrachtete, die richtiggehend zu hüpfen begann, “obwohl ich unter einer Koffein-Inkontingenz leide.” Jetzt war mir sonnenklar, dass ich es mit einem Kranken zu tun hatte. Ha! Koffein-Inkontinenz! Ich hob meine Tasse, er auch und wir prosteten uns zu. Ich schlürfte das heiße Getränk voller Genuss, während der Herr seines in einem Zug leerte. Und da geschah das Unglaubliche: Die Narbe öffnete sich. Aus dieser quollen Buchstaben. Zu Tausenden. In allen möglichen Alphabeten. Chinesische Zeichen. Japanische. Arabische. Lateinische, um nur einige wenige aufzuzählen. Selbst Hieroglyphen aus dem alten Ägypten konnte ich erkennen, neben Hunderten deren Ursprung mir verschlossen blieben.

Die Schriftzeichen umkreisten mich als wäre ich deren Sonne. Drehten sich immer schneller. Schwindel überfiel mich dadurch. Alles begann sich zu drehen. Fühlte wie ich angesogen wurde. Von der Narbe. Nein, der offenen Wunde, die sich hinter mir sofort schloss. Seither lebe ich glücklich in meinem neuen Universum, der Schriftzeichenwelt, die stets von mir fordert, und mehr als ultimativ verlang, ihnen den Buchstaben, wie diese auch gestaltet sind, durch Umschichtung immer neues Leben einzuhauchen, was ich auch mit diesem Bericht mit glücklicher Pflichterfüllung erfülle ...




Dreisatzroman der Woche

W E I L A N D

Weiland wars, in dunkler Zeit, als die Sonn noch helle schien, da gab es einen Punkt der sich verirrte in der Zeit und ohne Buchstaben weit und breit, verloren stand vor einer leeren Wand.

Verloren und gar ungegoren, versuchte er zu setzen einen Punkt, allwo es keinen gab, weinend er in der grauen stechend Sonne lag.

Da regnete es, man glaubt es kaum, aus dem Weltenraum A+B und Z und L, W,X D,J und E und auch, wenn alles nur war des einsam Punktes Traum, weiland hatte unser Punkt jetzt seinen Lebensraum!


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Einige Kommentare zu dieser Kurzgeschichte:

Am 9. Juni 2017 schrieb ein anonymer Leser:

"Genial"


"Buchstabenfall" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:





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