Kurzgeschichte der Woche

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SE NON è VERO è BEN TROVATO

Eine Kundin, sie kam beinahe täglich in unsere Buchhandlung, wollte stets mit mir plaudern und hatte, so dachte ich, den Narren an mir gefressen. Die Kollegen berichteten mir, dass wenn ich meinen freien Tag oder Urlaub hatte, die Kundin jeweils schnurstracks, ohne sich umzusehen, das Geschäft wieder verlassen würde. Die Frau mochte so um die siebzig sein. Doch »Frau« ist nicht der richtige Ausdruck, ich muss mich korrigieren, es war eher eine »Dame«. Meist schwarz gewandet, trug sie zwei glitzernde Ohrbehänge, stets die gleichen und eher Strass als echten Schmuck.

Ich erkannte die Dame, wenn ich am Computer beschäftigt war, bereits an der Lavendelwolke, die vor ihr her wallte und mir den Besuch nasal ankündigte. Wenn ich nicht zu fest belastet war, nahm ich mir für sie Zeit – denn nicht wahr – der Einzelhandel hat ja auch eine soziale Funktion, sonst könnten wir gleich schliessen und alles dem unpersönlichen Onlinehandel überlassen. Jedenfalls erzählte mir die Besucherin aus ihrem Leben, ihre Erlebnisse und was sie alles auch von den Mitbewohnern im Altersheim vernahm. Über dieses schimpfte sie zwar wie ein Rohrspatz, fühlte sich dort unwohl und hielt die Insassen zumeist für Deppen und fernsehsüchtig. »Es wäre dort einfacher auszuhalten«, bemerkte sie mit Schalk in den Pupillen, »wenn im Altersheim nur junge Menschen wohnen würden«.

Gestern nun wollte sie von mir wissen, ob die Geschichte, die die Neuangekommene im Heim, eine eingebildete Gans, wie sie diese bezeichnete, wahr sein könne. Sie begann, den Duft der blauen Pflanze freigebig verströmend, zu erzählen, was die »blöde Gans«, das sei ja der Gipfel der Unverfrorenheit, in Gegenwartsform berichtet habe.
»Als ich heute bereits bei Sonnenaufgang aufwache«, habe die Neue begonnen, »ich bin ein Langschläfer, wundere ich mich über die ersten rötlichen Sonnenstrahlen, die ich so wenig kenne und denen ich kaum je begegnet bin. Weshalb ich so früh aus dem Schönheitsschlaf gerissen wurde, ist mir zunächst ein Rätsel. Doch als ich mich mühsam aus dem Bett erhebe, mich aus der kuscheligen Decke puhle, höre ich verdächtige Geräusche aus dem angrenzenden Badezimmer. Ein Einbrecher? Eine geplatzte Wasserleitung? Ein ungutes Gefühl beschleicht mich. Und was, wenn ein fremder Mann in der Badewanne liegt und mit dem Wasser plantscht, möglicherweise gar eine Schwimmente zum Tauchen bringt, versenkt? Ein entsetzlicher Gedanke für mich als eingefleischte Tierschützerin und Veganerin.

Doch morgens soll man die Minuten in beide Hände nehmen, diese sich dann von nächtlichen Fantasien und Gespensterwinden abkühlen lassen, zur Tat schreiten, denn die Sonne vertreibt doch alles Schwarze und Dunkle.
Also raffe ich mich auf, noch vor dem Aufwecken all meiner Lebensgeister durch einen kleinen Schwarzen das Bad zu betreten, drücke die Türfalle - was für ein Ausdruck in meiner so unsicheren Situation! - nicht ohne vorher in ruhig lautem Ton rhythmisch die Holztüre durch Klopfen zum Erklingen gebracht zu haben. Nicht Dampf eines eingelassenen Bades schlägt mir entgegen, auch nicht mich mitreissende Wassermassen eines Rohrbruchs, nein, ein Gackern empfängt mich. Ein lautes, aufdringliches Hühnergegacker beschallt mein Trommelfell. Ein Gackern als hätte eine brave Legehenne ein Ei gelegt und verkünde dies nun lauthals und stolz gebläht der übrigen Welt.

Ich drehe mich im Kreis und versuche den Ursprung des Gackerns zu ermitteln. Dies erweist sich als mühsam, denn der Klang ist dreidimensional. Eine Hühnerherde? Bilden Hühner überhaupt eine Herde? Oder eine Hühnerversammlung? Eine Hühnerzusammenkunft? Ein Hühnerauflauf? Eine Hühnerkonferenz? Ein Hühnerkolloquium? Gar ein Hühnerkonzil?
Die gutturalen Töne entweichen, das stelle ich jetzt fest, aus einem Wasserhahn! Wie nur ist so etwas möglich? So kann ich den Sonntag nicht verbringen. Muss Abhilfe schaffen. Ich drehe das Wasser überall im Bad auf volle Stärke. Doch das »Das-Ei-ist-hier-Gegacker « übertönt das Plätschern, beleidigt weiter meine von edlen Musikgenuss verwöhnten Ohren.
Den Klempnernotdienst anrufen – eine glanzvolle Idee! Nummer im Internet finden. Handy ans Ohr. Die Stimme des Klempners tönt verschlafen, gestört, genervt. Ich erkläre. Er lacht. »Scherz« sagt er. Ich verneine. Halte das Handy in die Nähe, der Klänge. Er glaubt mir nicht. Doch ich beharre. Lange Pause in der Leitung. Dann die Bitte um einen Augenblick. Darauf die Antwort:
»Ihr Wasserhahn ist krank. Hier die Nummer des Notdienstes der Psychiatrie. Ein Hahn gackert doch nicht. Er kräht! Nur ein Arzt kann dem Wasserhahn helfen!«
Klick. Die Leitung ist unterbrochen und ich bin allein auf dieser aus Rand und Band geworfenen Welt …« Ich konnte der alten Dame, meiner Kundin, deren Nüstern vom Bericht und den dadurch neu entfachten, überlauten Schnaufern, ich kann es beschwören, weit geöffnet, einem Pferde gleich, jetzt himmelwärts gerichtet waren, einzig antworten:
»Se non è vero è ben trovato!«

Aus meinem im Oktober 2015 erschienen Band ‚BUCHHANDLUNG ZUM GOLDENEN BUCHSTABEN‘, Allitera Verlag, München, ISBN 978-3-86906-762-9 Auch als E Book auf www.buch.ch, www.buch.de, und www.amazon.de erhältlich.


"Se non e vero e ben trovato" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:




Ein Kommentar zu dieser Kurzgeschichte:

Im April 2016 schrieb D.W.:

"Brillant geschriebene Geschichte, herzlichen Dank."




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