Kurzgeschichte der Woche

Gedankenflucht

Gestern fühlte ich einen seltsamen Druck im Schädel. Migräne? Als junger Mensch litt ich oft an schrecklichen Kopfschmerzen. Unheilbar, sagte damals mein Hausarzt der auf konventionelle Medizin setzte. Gegen alles Alternative allergisch reagierte. Er behauptete stets diese Art Heilkunst löse bei ihm Migräne aus. Dies war denn auch der wahre Grund, dass ich ihn zu meinem Hausarzt erkor. Jemand der unter Migräne litt musste mehr darüber wissen. Konnte mich nicht als Simulanten abtun, wie das so viele meiner Zeitgenossen taten. Insbesondere meine wechselnden Arbeitgeber. Wechselnd meiner zahlreichen Migräne-Fehltage wegen. Die bereits in der Probezeit zur Scheidung führten. Arbeitsvertrags-Scheidungen. Von Kündigung wollte ich selbst mit meinem Hirn damals nicht sprechen. Denn wer lässt schon gerne eine verschuldete Kündigung über sich ergehen. Und das behaupteten die Personalabteilungen der Unternehmen in denen ich meinen Broterwerb bestritt. „Fehltage! Zu viele Fehlstunden. Kein Verlass auf Sie!“ Nun ja nach der siebten solchen Scheidung wollte keiner mehr mich auch nur Probeanstellen. Nach jeder Bewerbung erhielt ich Briefe mit großem Dankeschön für mein Interesse am Unternehmen bei dem ich mich beworben hatte. Man wünschte mir alles Gute für die Zukunft. Und das Finden einer Anstellung in der mein Profil besser passen würde, als in des Briefeschreibers Firma. Mit all den Absagebriefen hätte ich meine Wohnung tapezieren können, falls ich eine solche finden würde. Aber bei der finanziellen Durchleuchtung der Wohnungsvermieter, oder ihrer Agenten, ich vermutete bald es seien Geheimagenturen, fiel ich mit Regelmäßigkeit durch. Und wenn einmal nicht, überstiegen die Mietkosten selbst meine kühnsten Vorstellungen, so dass ich der Absager war. Absager mit großem Bedauern. Meist an einem der für mich damals berühmt-berüchtigten Migräne Tage.

Doch eines Tages, oder war es eines Jahres, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an, war mein immer wiederkehrender Kopf-Gast einfach verschwunden. Mein Hausarzt nannte das Heilung durch altern. Die Migräne habe sich einfach herausgewachsen. Immerhin nicht heraus gewaschen, wie ich dankbar zu mir selbst, bei jenem denkwürdigen Gespräch mit meinem Mediziner bemerkte. Doch gestern, genau siebenundzwanzig Jahre drei Monate und sieben Jahre später, fühlte sich mein Schädel wieder so an, als ob der nie vermisste Schmerz wieder anklopfen würde. Fühlte sich an, als ob ein Mäusebussard hoch über meinem Schädel seine Kreise zog und nur darauf wartete in unheimlichem Tempo hernieder zu stechen und mit einem Pick den alten Krankheits-Zustand wieder herzustellen. Doch irgendwie fühlte sich dieses Vorstadium anders an als damals. War es dem Wachstum meines Kopfs zu verdanken, wie es einst mein in der Zwischenzeit längst verstorbener Hausarzt beschrieben hatte? Doch nahm ich prophylaktisch eines der starken Schmerzmittel ein, denn ein Déjà-Vu wollte ich unter allen Umständen vermeiden. Ließ das Abendessen aus. Ging mehr als zeitig zu Bett. Träumte von Mäusebussarden. Wachte mitten in der Nacht auf. Nichts Außergewöhnliches für einen Mann in meinem Alter. Sah dann wie der Gedanke was ich am nächsten Morgen schreiben wollte sich höflichst mit einem Knicks von mir verabschiedete. Dann im Laufschritt an die Zimmerdecke flog. Dort andere meiner Gedanken mit Schnalzlauten anlockte. Als ich darauf zur Decke blickte hatte sich bereits eine wahre Traube von ihnen gebildet, die nun beinahe bis zu meinem Schädel nach unten hingen. Und immer stärker spürte ich ein Gekrabbel auf meinem Kopf, Gedanke um Gedanke schloss sich der Traube an. Diese brummte in einem unheimlichen erwartungsvollen Ton, als sei sie ein ausgeflogenes Bienenvolk das nur noch auf die neue Königin wartete. Auf einen Königsgedanken?

Da beinahe ein Schlag an der Schädeldecke. Die Gedankentraube fliegt auf. Entflieht. Verfolge deren Flugbahn. Hin zur Sonne. „Ihr werdet verbrennen“, rufe ich den Fliehenden tonlos nach. Der Mäusebussard aber sticht auf die Traube zu. Verschlingt gierig meine geflohenen Gedanken. Gedankenlos schaue ich zu. Höre mit dem linken Trommelfeld des Vogels Stimme die mir zuruft: “Was für unsinniges Zeug in so einem Menschenhirn vor sich geht. Nicht zu fassen.“ Spuckt alle aus. Gedankensplitter die nun auf die Erde niederregnen und als Bäume sprießen, blühen und gedeihen werden, nicht mehr eingeengt von einer Schädeldecke die sich vor Kommendem fürchtet ...




Dreisatzroman der Woche

W O L K E N B A N K

Auf der weißen Wolke, die am Sommerhimmel leise segelt, steht tief eingesunken in den weichen Nebel, die Parkbank auf der ich einst mit dir damals vor Äonen saß.

Obwohl aus hartem Holz geschnitzt und mit Eisennägeln auch gespickt, ist sie weich, die Parkbank, wie ein Kissen, weil du darauf einst saßt.

Jetzt segle ich einsam durch die Zeit, sitzend auf der weißen Wolke, halte Ausschau stets, doch hüllt langsam stetig der Wolkennebel mich jetzt ein, lässt die Gedanken milchig weiß aufs Neue leben...


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Ein Kommentar zu dieser Kurzgeschichte:

Am 23. Juni 2017 schrieb G.P.:

"Ein 'Migräneträger' liest nickend und schmunzelnd zugleich den Text........
Vielen Dank. "


"Gedankenflucht" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:





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