Kurzgeschichte der Woche

Aschenverweser

“Ich bin Aschenverweser”, sagt der in der Lebensmitte stehende Mann mit angegrautem lockigem Haarschopf, der mir gegenüber auf dem Befragungsstuhl für Stellenbewerber sitzt. Ich bin Personalsachbearbeiter bei den Staatsbahnen und habe zu prüfen ob Bewerber bei Fahrgästen einen guten Eindruck hinterlassen können. Zuvor haben diese eine Anzahl von Formularen ausgefüllt, ich bin sozusagen die letzte Instanz. Der Verfassungsgerichtshof der entscheidet. Meine Arbeit habe ich sehr exakt zu erledigen, denn allfällige Problemfälle kann ich mir nicht leisten. Insbesondere in diesem Jahr, da bereits fünf negative Rückmeldungen erfolgten und mich mein Chef letzthin mit den Worten: ‘Kein weiterer Fall, verstanden’, verwarnt hat. Also muss ich diesem Bewerber auf den Zahn fühlen. Bis zur Wurzel. Auch wenn es ihn schmerzen wird. Ich will jede Einzelheit seiner früheren Tätigkeiten wissen. Bin dann doch sehr erstaunt, dass er nie die Stelle gewechselt hat. Noch mehr als er mir seinen Beruf angibt: Aschenverweser. Noch nie gehört. Und wir bei der Bahn befördern ja seit der Dampflockzeit keine Asche mehr, versucht ein Gedanke mich von meiner Pflicht abzulenken. Ich frage nach. Aschenverweser? Lasse mir den Beruf beschreiben. Auf einem Friedhof hat, der mir einen guten äußerlichen Eindruck hinterlassende, gut präsentierende Mann, gearbeitet. Sein Leben lang. Sei verantwortlich, dass die Asche Verstorbener in die richtige Urne komme. Kein Fehler sei ihm in der ganzen Laufbahn unterlaufen. Ha, denke ich, wie wenn das nachprüfbar wäre.

Und weshalb wolle er seinen Job schmeißen, hake ich nach. Er habe die Nase voll. Vollständig voll. Nach dem letzten entsetzlichen Erlebnis könne er schlichtweg nicht mehr weiter Asche verteilen. In Urnen abfüllen. Den Angehörigen mit einem festen Handschlag übergeben. Natürlich muss ich, denke dabei an die Warnung des Chefs, Genaueres über dieses Erlebnis wissen. Denn ein mit schwierigen Fahrgästen nicht zu Schlag kommender Mitarbeiter ist nicht zumutbar und eine echte Rückmeldegefahr. Bohre also nach. Sehe wie der Kandidat sich windet. Ihm der Bericht sichtlich Mühe bereitet. Er sich, so denke ich, beim Offenlegen davor fürchtet das Ganze nochmals durchzumachen. Aber ich kann ihm das nicht ersparen. Sein Kopf läuft rot an als er beginnt. Sehe wie seine Beinmuskeln zucken, ihm den Fluchtweg zeigen wollen. Und dann beginnt er. Zögerlich. Vorerst stockend: “Es war an einem herrlichen Sommermorgen. Blauer Himmel. Kein Wölklein. Ich hatte sieben Tasks auf dem Vormittagsprogramm. Den ersten soeben erledigt. Ein Greis. Siebenundneunzig. Dachte, na ja eine Erlösung. Die Trauer-Zeremonie begann friedlich. Mit Johann Sebastian Bach. Ohne Worte danach. So habe es der Verblichene gewünscht.

Als ich die Urne mit Trauerblick, den beherrsche ich perfekt und Handschlag den Trauernden wie üblich übergeben will, entsteht ein Tumult. Vierzehn Hände greifen nach ihr. Zerren. Prügeln aufeinander ein. Bis die Urne zu Boden fällt. Da zuvor die Reinigung den Raum gründlich säuberte ist der Boden feucht. Was für ein Schlamassel. Nasse Asche. Schlieren am Boden. Scherben. Entsetzlich die Ruhe eines Verstorbenen so zu schänden. Und die Prügelei geht weiter. Handfester. Blut beginnt zu fließen. Bald liegen zwei am Boden. Einer sieht den bei mir eingelieferten Verblichenen sehr ähnlich. Weiß. Wächsern. Rufe die Polizei. Überfallkommando erscheint mit Blaulicht. Stört die Friedensruhe meines Arbeitsplatzes. Und da beginnt das Entsetzliche. Eine wilde Schiesserei. Ich rette mich hinter das Rednerpult. Kugeln schwirren. Und dann liegen, ich kann diese nicht zählen, zu aufgeregt bin ich, einige kommende Kunden am Boden. Ich bekomme die Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Kann meinen Beruf nicht mehr ausüben. Muss Stelle wechseln.”
Mein Kunde sitzt jetzt wie ein Häufchen Elend auf seinem Stuhl. Kann ich es wagen ihn anzustellen? Wie lautet Ihr werter Rat? Was wenn ein Reisender, eine Reisegruppe eine Urne im Handgepäck mitführt oder nationale Wahlen anstehen?




Dreisatzroman der Woche

N A V I G A T I O N

Ein Fisch, frisch schillernd in den Regenbogenfarben, klopfte kürzlich Nachtens bei mir an und als ich - es war zehn nach Mitternacht - das Fenster einen Spalt dann öffnete, zog er höflich seinen Hut aus Schuppen und frug nach dem Weg zum Seelenmeer.

Ich gab ihm Auskunft nach bestem Wissen und Gewissen, dem Fisch der ein Rot in seinem Barthaar trug, das ich noch nie jemals erblickt, wies ihn auf die Treppe, steil nach oben zum Himmelsbaum, dann zwei Stufen rechts und weiter hoch nach Süden.

Doch der Fisch, dessen grüne Augen mich durchdrangen, sprang samt Hut in meine Westen-Tasche und entgegnete: „Nein ich denk ich bin an meinem Ziel.“




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Einige Kommentare zu dieser Kurzgeschichte:

Am 18. November 2017 schrieb ein anonymer Leser:

"Es ist eine traurige Geschichte über die Gier, über die Konflikte einer Erbgemeinschaft, die ad absurdum geführt wird. Schon die Funktion des Aschenverwesers ist ziemlich absurd. Es ist Ihre Stärke, phantasievolle Sujets mit farbigen Details und überraschenden Pointen mit einer Wucht zu konstruieren. Die Entwicklung ist eruptiv, aus unauffälligen Geschichten machen Sie unerwartete Bomben, die ohne Vorwarnung explodieren. Sie sind ein Elemntarforscher der menschlichen Psyche. "

Am 17. November 2017 schrieb ein anderer anonymer Leser:

"Herrlich makabre Geschichte, vielen Dank. "




"Aschenverweser" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:





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