“Wissen Sie meine Beziehungen laufen in die Anarchie!”, spricht in Flüsterton die alte Dame die heute ihren 106. Geburtstag feiert. Ich bin Pflegerin im Altenheim unseres Städtchens und höre der Frau, sie ist an diesem Tag bleich, sieht ausgemergelt aus, geduldig zu. Nicke mit dem Kopf, bin froh dass meine langen blonden Haare zu einem Dutt gebunden sind, ansonsten ich diese kontinuierlich aus dem Gesicht streichen müsste, habe ich den Kopf doch über das Bett gesenkt um den Pflegefall den ich nebst 25 anderen zu betreuen habe, besser verstehen kann. Frage mich was einer Greisin für Beziehungsanarchien geschehen können. Doch eher mir, denn als junge Frau in unserer Zeit stehen so viele Türen und Tore für Beziehungen offen, dass zwangsläufig daraus ein Knäuel entstehen muss. Ein Beziehungs-Knäuel. Ein Beziehungs-Knoten der kaum mehr zu lösen sein wird. Wohl mein gesamtes Leben nicht. Bereits wenn ich mein Smartphone betrachte, die WhatsApp, die Messages und all die anderen kommunikativen Mittel, erkenne ich mich kaum mehr. Zugegeben ich habe mir verschiedenste Identitäten zugelegt. Mit Model Pics einerseits, natürlich nicht eigene, mit hässlichen Bildern andererseits, um zu erkennen wer auf was anspringt. Mit mir in Beziehung treten will. Wild, denke ich als all diese Gedanken im Anblick der vor mir liegenden alten Dame mir durch den Kopf gehen. Nein, rasen!
“Wissen Sie, oder darf ich Du zu Dir sagen”, fährt die 106 jährige fort. “Ich habe damals als Magd auf einem Bauernhof, an dem ich für Kost und Unterkunft und ganz wenig Barem arbeitete, einen Heiratsantrag erhalten. Vom alten Hausknecht der bereits von Gicht gezeichnet war. Ausgeschlagen habe ich diesen, ich dummes Mädchen” (ich kann mir ein Schmunzeln ob der Bezeichnung ‘dummes Mädchen’ nicht verkneifen, verbiete es meinen Gesichtsmuskeln es aber zu zeigen), “und kaue immer noch daran herum. Wäre mein Leben anders verlaufen? Würde jetzt ein Enkelkind sich über mein Bett beugen anstelle einer Pflegerin? Wäre ich glücklicher geworden? Hätte ich erfüllter gelebt? Obwohl der Hausknecht doch bald starb und ich dann um einen Ehemann hätte trauern müssen. Und heute an meinem Geburtstag bin ich wieder hin und her gerissen. Habe ich richtig gehandelt damals?”
Die letzten Worte hatte der Pflegefall nur gehaucht und dazu alle Gesichtsmuskeln in Aufruhr gebracht. Ich sehe wie Tränen sich langsam von den tiefen Augenfalten lösen. Aufs Kissen tropfen. Ich streiche der Dame über die Wangen. Sie seufzt. Und ich stimme in ihr Seufzkonzert ein. Nicht ihrer Sorgen sondern meiner Beziehungsanarchien wegen. Ach hätte ich doch einzig Hausknechtsorgen. War doch das Beziehungsleben damals einfach verglichen mit dem meinen. Muss mich von der Frau verabschieden, die 25 anderen Fälle warten auf mich. Und meine WhatsApp-, Instagram-, Facebook-, Twitterlieben. Denke dass auf mich, wenn ich hundertsechs werde, ganz andere Reueorgien warten werden. Doch werde ich diese ebenfalls tränenden Auges zu ertragen haben. Ob ich dann will oder nicht …
Dreisatzroman der Woche
W E L L E
Eine kleine weiße schäumend Welle, bewegt sich auf dem glatten, stillen See nicht von der Stelle.
"Ich bleibe hier und bin der Sturm in des glatten Sees Leben, singe ihm das Lied des ewigen Erbebens"
Wasservögel, Menschenboote, pilgern hin zur toten Welle, die sich nie bewegt von ihrer liebsten angsterfüllten Stelle.
"Trifft den Nagel auf den Kopf. Die jungen Leute sind nicht zu beneiden - zu viele Optionen."
Am 02. Februar 2018 schrieb U.M.:
"Die Geschichte ist wirklich sehr berührend! Gut aufgebaut, die Parallele zwischen der nostalgischen Erinnerung, dem traurigen Schicksal der alten Dame, der abgerackerten.
Und dem Chaos der jungen Pflegerin. Es ist Ihnen perfekt gelungen, in ein paar Sätzen den Lebensstil der jungen Generation zu charakterisieren. Eigentlich sind sie mit den elektronischen Möglichkeiten überfordert,
verführt zum laut lachen, manchmal sehr berührend und tiefgreifend. Ich freue mich problematischen virtuellen Chaten. Dass sie mit dem Blick geheftet auf jede - ihre Phons herumlaufen ist traurig.
Noch trauriger ist, wenn ältere Leute eine solche Abhängigkeit entwickeln. Gut habe i. gefunden, dass Sie die Geschichte aus der Perspektive der Pfegerin schildern.
"
Am 02. Februar 2018 schrieb ein anderer anonymer Leser:
"Ja, Sie sprechen da ein Thiema an: die heutigen Jungen haben es auch in dieser Beziehung viel schwerer, als wir damals. Da gab es nur eine(n) aufs Mal und höchstens bei der Ablösung mal kurz einen Knopf. Aber jetzt, mit all den Friends, dass da ein Gnusch im Fadechörbli entstehen kann - kein Wunder ! - Und der Zeitaufwand für das viele Tscheggen der Souschel Medias - da lese ich lieber in Ruhe Ihre wöchentliche Geschichte!
"
Am 02. Februar 2018 schrieb ein weiterer anonymer Leser:
"Sehr gut, berührend! "
Am 02. Februar 2018 schrieb ein weiterer anonymer Leser:
"Die 100 Millionen Möglichkeiten eines Lebens,
schon spannend"
"Beziehungsanarchie" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:
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Nach langem Fussmarsch erkenne ich auf dem Strässchen ein grosses, mit roter Farbe aufgesprühtes P. Es wird sich um Arbeiten im Boden handeln, denke ich....