Ein Zylinder war sein einziges Requisit. Ein leerer Zylinder. Schwarz. Hoch. Er selbst war dunkel gekleidet. Frackgewandet kam er daher. Er zauberte. Nein, nicht Kaninchen. Keine Tauben. Auch keine Gegenstände. Weder Spielkarten noch Schlangen. Keine geknüpften Seile oder Tücher. Nein, er zauberte Töne. Hohe. Tiefe. Halbe. Vierteltöne denn auch. Und verzauberte mit den gezauberten Klängen das Publikum. Er war hoch begehrt. Einzig, er wusste nicht, wie die Töne beschaffen waren, die er aus dem Zylinder holte. Er hatte von ihnen nicht die geringste Ahnung. Die Töne zauberten sich selbst, zauberhaft auch für ihn, den Zauberer. Jeden Abend trat er klopfenden Herzens in die Manege. "Gelingt es heute wieder?"
Diese Frage stellte er sich, sobald der Sand des Zirkusrundes seine blank polierten Schuhe knirschend küsste. "Was geschieht, wenn der Zylinder seinen Dienst versagt?" Quälend schlich sich jedes Mal der Zweifel vom linken Ohr in das Hirn hinein, wurmte so lange kreisend, bis der Applaus aufbrauste, den er an der Bewegung seines Publikums wahrnahm, denn der Zauberer war taub. War stumm. Hörte keinen der wundervollen Klänge, die er seinem schwarzen Zylinder zu entlocken wusste.
Als das Unaussprechliche geschah, der Auftritt unseres Zauberers von statten ging und alle verständnislos auf den Zylinder starrten, dem nichts entsprang, als sich die Hände der Zirkusbesucher nicht mehr zur Applausvereinigung fanden, wusste der Zauberer, dass sein Ende gekommen war. Doch die Welt ist voller Wunder. Der Zauberer bekam, als er vor Scham über sein Versagen in den Sand der Manege niedersank, sein Gehör zurückgeschenkt, vernahm das Zirkusraunen, das Atmen der erwartungsvollen Menschen, das Klopfen des Regens auf den Zeltplanen, das Pfeifen des Windes in den Stangen der Artisten, das Knirschen des Sandes an seinen blank polierten Schuhen. Nur aus dem Zylinder, dem schwarzen, hohen, erklang kein Ton.
Doch wie verzaubert lauschte das Publikum der Stille, die nun dem hohen Hut entsprang. Einer solchen Klanglosigkeit hatte keiner zuvor je gelauscht. Und so wurde der Schwarzgewandete ein Zauberer der verschollenen Töne, der den nicht klingenden Klängen, die seinem Zylinder so zahllos zu entsteigen scheinen, Gestalt verleiht. Er kann nicht erklären, wie es geschieht. Er kann nur selber stets gebannt der Stille lauschen. Der Zylinder aber wächst mit jedem verschollenen Ton, bis er zum Himmelszelt wird, in dem sich stumm und still, im Licht von Milliarden Sternen, des Seins Geheimnis widerspiegelt.
Aus: Geschichten die der Zirkus schrieb. 24 Geschichten Verlag: Benteli, Autor: François Loeb. Beiträge von Rolf Knie. Illustriert von Ted Scapa Erscheinungsjahr 2007, ISBN 978-3-7165-1481-8
"Der verschollenen Ton" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:
TERMINE
LESUNGEN
02. NOV 24
LESUNG
Schloss Hünigen Konolfingen 18:30 Uhr
zusammen mit Stefan Heimoz