Kurzgeschichte der Woche

Stacheln

„Also mit Stacheln sind unsere Triebwagen nicht ausgestattet. Obwohl ich das manchmal nicht für falsch halten würde. Zum Beispiel wenn ein Passagier noch zusteigen möchte, ich aber, da die Freigabe zum Kreuzungssignal erst von der Elektronik bei geschlossenen Türen ausgelöst wird, nicht mehr öffne und er diese Entscheidung mit einem Fusstritt an meine Karosserie quittiert. Ja, da wäre ich froh, hätte unser Tram einen der Hornisse ähnlichen Stachel, um sich zu wehren. Na ja, das gibt es nicht. Und Passagiere sind allemal Gäste und solche sind gastfreundlich zu behandeln, auch wenn sie nicht mehr mitfahren können.“

Tiefe Falten zieren das braun gegerbte Gesicht des Tramchauffeurs. Bei den Stachelworten aber bilden sich zwei Sympathie heischende Lachgrübchen auf seinen Wangen.

„Wissen Sie“, fährt er fort, während sich die Grübchen mit Faltenspeck füllen, „Stacheln bedrohen auch uns manchmal, und zwar sehr direkt. Stellen Sie sich vor, wie einem zu Mute ist, wenn sich mitten im Herbst eine Wespe ins Cockpit verirrt. Einem bei voller Fahrt um den Kopf schwirrt und die Konzentration von der Strasse zum eigenen Ich absaugt. Unangenehm, kann ich Ihnen versichern. Nach der Wespe klatschen können wir nicht. Beide Hände sind zur Dauerbeschäftigung verurteilt. Und setzt sich dann der geflügelte Störenfried einem auf Nase oder Wange, was bleibt anderes übrig, als einen Notstopp einzuleiten, um endlich den Kampf aufzunehmen! Dass dabei unser Fahrplan in die Binsen geht, liegt auf der Hand. Aber Sicherheit geht vor. Das Vertreiben des Viehs hat dann absolute Priorität.

Aber davon will ich gar nicht berichten. Wen interessieren schon die Ängste und Nöte des einsamen Piloten an der Spitze des Tramzugs! Höchstens Beschwerden ernten wir dann. Weil der Bahnanschluss nicht eingehalten werden kann oder ein Sprint dazu notwendig wird. Aber ich will von den positiven Seiten berichten. Die überwiegen nämlich in unserem Beruf, in unserer Berufung.

Da fuhr ich also einen Nachtdienst. Gegen zweiundzwanzig Uhr war es und ich hatte gerade die grosse Brücke überquert und an der Brückenkopfhaltestelle angehalten. Als ich wieder Power auf die Schienen gab, sah ich im Scheinwerferlicht ein stacheliges Bällchen. Na ja, dachte ich“, jetzt erschienen die Wangengrübchen erneut, „da hat wohl ein Kind seinen Stachelball verloren. Oder ein Senior sein Fusssohlenmassiergerät. Schade drum, dachte ich. Doch als ich weiter beschleunigen wollte, bewegte sich der Stachelball direkt auf eine der beiden Schienen zu. In Sekundenschnelle sah ich zwei Knopfäugelchen im Scheinwerferlicht aufblitzen. Das Bällchen, versuchte vergeblich, sich in die Schiene zu drücken, dort zu verschwinden. Nun war ich überzeugt, keinem Spiel- oder Sportzeug zu begegnen, und leitete eine Schnellbremsung ein.

Darauf nahm ich das Mikrophon zur Hand und entschuldigte mich für den Halteruck. Ich erklärte, dass ein junges Igelchen auf der Schiene laufe und ich dieses retten gehen würde. Kein Protest aus dem Passagierraum. Ich nahm die Arbeitshandschuhe, die sich in jedem Führerstand eines Trams befinden, stellte die Steuerung auf Pause, öffnete die vorderste Tür, nahm das kleine Stachelbällchen, das sich ganz zusammengerollt hatte, in die Hand und musste einige Dutzend Meter weit gehen, bis ich einen Vorgarten mit Rasen fand, wo ich das kleine Geschöpf vorsichtig in seine Freiheit entliess. Als ich ins Tram zurückkehrte, ertönte lauter Applaus. Ach, tat das gut verstanden zu werden!
Ich hoffe, dass dem Igel ein langes friedliches Leben beschieden war, das auch ich mir wünsche“, schloss der gestandene Tramchauffeur seinen Bericht. Und jetzt waren seine Wangengrübchen, so schien es mir jedenfalls, so fest gewachsen, dass man sie nicht mehr aus seinem Antlitz wegdenken konnte.

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Einige Kommentare zu dieser Kurzgeschichte:

Am 16. August 2016 schrieb schrieb R.B.:

"Herzlichen Dank für diese zauberhafte Geschichte!!! Ich freue mich jede Woche über ihre Geschichten - Danke sehr und Ihnen alles Liebe!"

Am 14. August 2016 schrieb schrieb M.L.:

"Danke für diese wunderbare –menschlich-tierische- Geschichte „STACHELN“. Ich sitze im Triebwagen, leide mit dem Tramfahrer, der das einzig Richte tat, er bremst. Danke für die Igelrettung in ihrer Geschichte. Hier klatsche ich Beifall! ... Wünsche einen sonnigen Start in die neue Woche und freue mich schon auf eine neue Geschichte am Freitag."

Am 12. August 2016 schrieb ein anonymer Leser:

"Geschrieben wie das Erleben im Job nun mal so ist,egal welcher Job! Meine omis und Opis(dement) nicken bejahend mit den Köpfen ,diese Geschichte zaubert ein Schmunzeln ins Gesicht, zufriedene Ausstrahlung. Dankeschön und weiter so!!"


"Stacheln" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:





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