Sie können sich nicht vorstellen, wie ich erschrak. An jenem Montagvormittag, so gegen zehn Uhr. Es war mein freier Tag. Ich hatte das ganze Wochenende Dienst. Spätdienst. In der Nacht von Samstag auf Sonntag mit viel Randale betrunkener Fahrgäste und Sonntagnacht mit zahllosen missmutigen Menschen, die ihr Wochenendglück der Vergangenheit anheimfallen lassen und dem grauem Alltag ins kalte Auge schauen mussten. An meinem freien Tag – ich nehme mir jedes Mal vor, eine kleine Wanderung zu unternehmen – schlafe ich meist bis Mittag. Doch an jenem Montag blendete mich die Sonne und vertrieb alle Schlafgelüste im Nu, verjagte sämtliche Sandkörner aus meinen Augen. Ich braute mir meinen kleinen Schwarzen, goss ein grosses Glas Leitungswasser in meinen Teebecher, nahm einen Apfel zur Hand. Vierteilte ihn mit zwei Schnitten meines extrascharfen Küchenmessers. Nahm, nachdem ich den Morgenmantel übergezogen hatte, zwei Apfelviertel in die Hand, wanderte so zu meinem Briefkasten, dessen Inhalt drei Stockwerke tiefer auf meine erlösende Hand wartete, und biss unterwegs genüsslich in einen der Schnitze. Das andere hob ich mir, mein Magen freute sich beim Abgang auf diese für den Aufstieg in Aussicht gestellte Gabe, für den Rückweg auf. Ich öffnete den Briefkasten mit dem winzigen Schlüssel, der an meinem Schlüsselbund ein krasses Aussenseiterdasein fristet, und nahm die abonnierte Tageszeitung zur Hand, zwei Briefe, bestimmt Rechnungen oder Mahnungen – ich schiebe meine Zahlungen immer etwas auf, sollen doch die reichen Unternehmen ruhig ein wenig auf ihr Manna warten müssen –, da sah ich das Objekt am Briefkastenboden liegen: ein schwarzer Schaft, ein in den Sonnenstrahlen aufblitzender Oberteil. Ein Messer lag da. Mit mittelgrosser Klinge. Echt gefährlich sah es aus. Ein Mordwerkzeug. Ein Messer im Briefkasten? Was konnte dies bedeuten? Weder in Kriminalromanen, ich verschlinge diese Literaturgattung an jedem arbeitsfreien Tag mir krausem Wirbelsäulengenuss, noch in Kriminalserien im Fernsehen hatte ich je von Messern in Briefkästen vernommen. Ein eisiges Gefühl zog meinen Magen zusammen. Mir war durch diesen messerscharfen Anblick mit seinen furchterregenden Assoziationen der Appetit auf mein sonst ausgedehnt zelebriertes Montagsfrühstück vergangen.
Ich spürte, wie meine angeborene Sorgenstirnfalte sich augenblicklich in eine Hautschlucht verwandelte, die einen tiefen Graben in meiner Kopflandschaft aufriss. Gut, dass meine Freundin mich nicht so erblicken musste, denn sie hasst Sorgen und Ängste, will das Leben in seiner Vielfalt, doch ohne Negativismen geniessen, wie sie stets mit ihrem breiten, so anziehenden Lachgegluckse betont. Langsam stieg ich die Treppe zu meiner Wohnung wieder hoch, das inkriminierte Messer mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand haltend, von meinem Körper wegweisend. Trachtete mir jemand nach dem Leben? Doch weshalb? Ich hatte niemandem etwas angetan. Besass keine Feinde. Keine Neider – wie könnte jemand auf mein bescheidenes Leben neidisch sein? Auch keine Nebenbuhler. Hassreiche Ex-Freundinnen oder Geliebte. Im Beruf bin ich angesehen als Durchschnittsmensch, der sich mit niemandem anlegt, weder mit dem Betriebsrat noch mit der Geschäftsleitung. Alle betrieblichen Befehle befolgt. Da ich keiner Religion angehöre, konnte auch nicht ein Glaubensrichtungsstreit Ursache der Messerdrohung sein. War es überhaupt eine Drohung? Ich blieb auf dem Treppenabsatz zwischen zweitem und drittem Stock stehen, besah nochmals das Corpus Delicti näher. Drehte es um. Nahm Unter-, Ober-, Rechts- und Linksseite präzise in Augenschein. Doch nirgends konnte ich einen Identitätshinweis entdecken. Es war einzig ein äusserst scharf geschliffenes Messer. Ein Nullachtfünfzehn-Messer mit gummiähnlichem Griff. Sei doch nicht albern, sagte ich zu mir selbst. Da hat jemand eine Orange geschält und wusste nicht, wohin mit dem Messer. Warf es in den erstbesten Briefkasten. Oder war es gar die Nachbarin, die sich im Schlitz vertan hatte? Mein Verstand schloss diese These jedoch gleich aus, denn der Wohnungsnachbarin Briefkasten quoll regelrecht vor Post, Zeitungen und Werbematerial über. Also musste sie verreist sein.
Oder war ihr etwas zugestossen und das Messer ein Hinweis ihres Mörders,
damit ich die Polizei verständigen sollte? Jetzt tritt deine Fantasie endgültig über die Ufer, schalt ich
mich selbst. Wird einfach ein Zufall sein. Ein verirrtes Messer. Wie du jetzt verirrte Gedanken
produzierst. Nimm das Besteckstück einfach als Bereicherung deiner Haushaltsschneidwerkzeuge an.
Ein Geschenk. Und geniesse deinen freien Tag. Der Fahrstress holt dich morgen wieder ein. Mit
hundertprozentiger Sicherheit. Also legte ich das Messer in meine Besteckschublade. Braute mir
einen zweiten Kaffee. Setzte mich mit der Zeitung in den Lehnstuhl. Schüttete den Graben auf meiner
Stirn zu, indem ich mir den Besuch im Planetarium, den ich für diesen Tag geplant hatte, bildlich
vorstellte. Eine Reise durch die Galaxis. In die Unendlichkeit. Ohne Stau. Ohne meckernde Passagiere.
Ohne Weichen oder Signalstörungen. Einfach als Betrachter in einem der angenehmen Fauteuils
mich fläzend. Und was spielte schon ein Messer in der Milchstrasse für eine Rolle, in den Fernen des
galaktischen Raums! Ich konnte es ruhig vergessen. Aus meinem Kopf entfernen. Ausweisen. Es
dorthin befördern, wo es hingehörte: ins Pfefferland. Ich genoss die Vorstellung des interstellaren
Raums und trat beschwingt auf die belebte Strasse, schritt dem Bürgersteig entlang in Richtung
meines Lieblingsdönerstandes, grüsste den Besitzer, oder war es der Betreiber, wie sollte ich das
wissen, herzlichst. Und da ich Stammkunde war und mindestens ein, wenn nicht zweimal in der
Woche die türkische Gastlichkeit genoss, hiess er mich ebenso freundlich willkommen und stellte die
Standardfrage: «Wie immer? Mit allem und extra scharf. Und dazu ein Helles?» Ich hatte nur zu
nicken. Meine Gedanken schwebten immer noch in der Ferne des Weltalls und ich stellte mir vor, in
einer Raumkapsel zu sitzen und vom Kameraden eine Raumkonserve kredenzt zu bekommen, darauf
achtend, dass die Nahrung sich mir nicht schwerelos entziehen konnte. Der Vorteil eines Döners lag
auf der Hand, dass dafür kein Besteck nötig war. Ich den Wrap einzig mit Händen und Zähnen
geniessen konnte. Besteck! Das brachte mich auf die Erde zurück. Auf die feste Erde mit ihren
teilweise unlösbaren Problemen, unmittelbar und ohne Umwege zum Briefkastenmesser und seinem
ungelösten Geheimnis.
Beinahe blieb mir ein Biss meiner Leibspeise im Hals stecken. Wie, wenn es
doch eine Drohung war? Ein Angriff auf mein Leben? Eine Morddrohung? Weshalb, war mir zwar
schleierhaft. Doch Schleier lüfteten sich in der Regel irgendwann. Und ich begann mich erneut zu
fürchten. Hatte ich versteckte Feinde? Jemanden tödlich beleidigt? War deshalb ein Attentat auf
mich in Vorbereitung? Ein Messer im Briefkasten! Ohne jeden Hinweis. Das musste eine Bedeutung
haben. Eine unheilschwangere. Plötzlich waren meine Hände eiskalt. Musste ich die Polizei
benachrichtigen? Anzeige gegen Unbekannt erstatten? Doch – mich der Lächerlichkeit preisgeben ...,
nein, danke! Alles, nur das nicht. Jetzt erreichte die Kälte meine Zehen. Die kleinen beider Füsse
fühlte ich bereits nicht mehr. Und in allen anderen Extremitäten verbreitete sich ein unangenehmes
Kribbeln, das nichts Gutes verhiess. Du musst nach Hause! Ein heisses Bad wird dich in die Normalität
zurückführen. Die Unendlichkeit der Galaxis hat dich erschreckt, lässt dich an deinem Verstand
zweifeln, flüsterte mein linkes Ohr dem rechten Trommelfell, das unter einem unangenehmen
Tinnitus leidet, zu. So nahm ich den Rest meines Döners in die Hand, schüttete hastig mein Bier
hinunter, verabschiedete mich vom Standbetreiber, der mir besorgt nachrief: «Geht es Ihnen gut?»
Mit vollem Mund war keine Antwort möglich, so musste ich auch keine Lüge über meine Lippen
perlen lassen. Zu Hause angekommen, öffnete ich wie immer beim Betreten des Hauseingangs
meinen Briefkasten und fiel fast in Ohnmacht: Eine weitere Klinge blitzte mir entgegen, auch wenn es
das nur erbärmliche Licht der aus Energiegründen schwachen Sparlampe der Hausgangbeleuchtung
widerspiegelte. Das Messer hatte einen ähnlich gummierten Schaft wie das erste. Die Klinge war aber
bedeutend länger und wie das vorhergehende so scharf geschliffen, dass es beim vorsichtigen
Greifen beinahe meine Haut zu ritzen vermochte. Jetzt waren all meine Sinne in Alarmbereitschaft.
Ich sah mich im Gang um. Blickte ins Treppenhaus. War da nicht jemand versteckt, der auf mich lauerte? Ich sann über die gestrige Nacht nach. Wer konnte einen Rachefeldzug gegen mich
beginnen? Hatte ich jemandem Unrecht getan? Jemanden verletzt, der sich jetzt an meiner Angst
ergötzte und mich womöglich bald angriff? Solche Messer konnten nur diese Bedeutung haben. Das
zweite. Grössere. Wie würde das dritte erst aussehen? Ein Dolch? Ja, gestern gegen 23 Uhr, daran
erinnerte ich mich unversehens, war mir ein Sportcoupéfahrer, so ein Reichling, vor die Strassenbahn
gefahren. Wollte mir die Vorfahrt nehmen. Ich hatte mich, wie es sich gehört, verteidigt. Meine
Glocke im Dauerton erklingen lassen. Und der Kerl, es handelte sich sicherlich um einen schmierigen
Zuhälter, so dachte ich jedenfalls, hatte seine Faust erhoben. Mir gedroht. Gedroht, obwohl ich
absolut im Recht war. Ich hatte ihn schliesslich gezwungen, zurückzusetzen. Neben sich hatte er eine
auffällige Tussi sitzen, vor der er sich im Machtkampf Auto versus Strassenbahn blamiert haben
musste.
Da hatte ich also den Täter! Ich musste unverzüglich die Polizei anrufen. Doch würden die
mir Glauben schenken? Die einzige Lösung war, auf der Wache vorbeizugehen. Als Beweisstück die
beiden Messer vorzeigen. Doch meine leichte Bierfahne sprach jetzt dagegen. Nein, nie und nimmer
würden die Beamten mir die Tatsachen abnehmen! Messer im Briefkasten? Als Racheakt für
verweigerteV orfahrt? Haha, das müssen Sie schon einem Gutgläubigen erzählen, nicht einem
bestandenen Kriminalbeamten! So würde ich bestimmt abgewimmelt werden. Besser bis zum
nächsten Morgen warten. Ohne Alkoholdunst auf dem Revier vorsprechen. Jetzt lieber ein heisses
Bad nehmen. Die Angst verdrängen. Und ich stieg die Treppen hoch. Schloss die Wohnungstüre auf.
Liess ein Bad einlaufen. Entnahm dem Kühlschrank eine weitere Flasche Bier. Musste ja nicht mehr
hinaus. Hatte eine lange bequeme Nacht vor mir. Setzte mich mit dem begonnen Kriminalroman in
die Wanne, wollte das Ende, die Auflösung endlich erfahren. Doch kaum hatte ich zehn Seiten
gelesen und das halbe Bier aus der Flasche getrunken, klingelte es an der Wohnungstüre. Wer konnte
das sein? Niemand würde mich bei meinen unregelmässigen Arbeitszeiten einfach so ohne
Voranmeldung besuchen. War das der Elektrozählerableser? Doch um diese Zeit? Oder war es der
Briefkastenmesserversenker? Der Zuhälter? Der Reichling? Der Sportwagenaggressor? Mein Mörder!
Ich begann, trotz des heissen Wassers, am ganzen Leib zu zittern. Wieder meldete sich mein Ohr:
Was regst du dich auf. Lass dir dein wohlverdientes Bad nicht vergällen. Bleib einfach liegen. Der
Störenfried wird sich bestimmt verziehen. Doch jetzt klopfte es heftig an der Türe. Ich fürchtete, dass
der Kerl in seiner Wut die nicht sehr stabile Eingangstüre mit seinem Körpergewicht einfach
aufbrechen würde. Zu oft hatte ich dies in Fernsehfilmen gesehen. Und nackt im Bade liegend wäre
ich eine wehrlose Zielscheibe für einen wutentbrannten Eindringling. Also erhob ich mich aus dem
Wasser. Schlüpfte in den bereitliegenden Bademantel und schritt mit schlotternden Knien zur Tür.
Schloss diese jedoch erst auf, nachdem ich mich mit den Briefkastenmessern bewaffnet hatte, die ich
angriffsbereit in beiden Händen hielt. Vor mir stand ein untersetzter, sehr gut gekleideter Herr,
seinen Hut in der Hand. Er glich keineswegs dem Schnösel der vergangenen Nacht. «Ich sehe»,
begann er, «Sie haben Gefallen an den Mustermessern meiner Kollektion gefunden. Ich kann Ihnen
diese zu einem Sonderpreis überlassen. Selbstschleifend. Immer scharf bleibend. Aus Inox-Stahl,
absolut rostfrei. Der Griff aus Hartgummi. Und das für einen Schnäppchenpreis …»