Kurzgeschichte der Woche

Umdieeckedenken

Ja, in meinem Beruf muss man um sieben, nein, um siebzehn Ecken denken. Nichts ist logisch. Nichts läuft geradeaus. Alles geht verwinkelte Wege. Links herum und von oben nach unten. So kann ich jedenfalls das Denken meiner Klientel bezeichnen. Bei meiner Berufung geht es um Wahrheit. Diejenigen die mir gegenüber sitzen sollen diese darlegen. Doch Wahrheit hat, das habe ich in meinen siebenunddreissig Berufsjahren gelernt, zahllose Facetten. Sie schillert in allen Farbtönen, beinahe wie ein herrlicher Regenbogen, obwohl dieser immer wieder im Nichts verschwindet. Wie die Wahrheit. Was mich zu meinem gestrigen Erlebnis bringt. Einem Sonntag. Einem Ruhetag. An dem ich mich bis um nach zehn Uhr früh im Bett räkelte. Genussvoll meinen ersten Espresso, ich besitze eine altertümliche Dampfkaffeemaschine die ich aus einer Konkursmasse eines Gastronomiebetriebs gekauft habe, gekrönt von einem Sahnehäubchen und einem Schälchen grüner und schwarzer entsteinter Oliven, schlürfte. Diesen Genuss, eine mediterrane ungewöhnliche herrliche Mischung, sollten sie sich auch einmal zu Gemüte führen. Weckamine erster Güte versichere ich ihnen.

Ja, da wurde ich gut gelaunt richtig wach, als jemand meine Hausklingel mit Vehemenz bediente. So intensiv, dass ich diese nicht ignorieren konnte, sondern nackt wie Gott mich schuf und wie das Bier meinen Schmerbauch gestaltet hat, zur Eingangstüre begab und mich durch den Türspion schlau zu machen versuchte. Also am heiligen Sonntagmorgen um zehn! Wer konnte das sein? Wurde ich zu einem Notfall gerufen? Doch ein solcher Ruf erfolgt nur über meine Geheimnummer auf mein Handy. Konnte es deshalb nicht sein. Wer wollte denn an der Haustüre etwas über Wahrheit erfahren? Das war schliesslich meine einzige Kompetenz. Das Wissen mit dem ich mein Brot sauer zu verdienen hatte. Ja, sauer wie Sauerteig, das kann ich ihnen versichern. Die Wahrheit muss wie Brotteig aufgehen. Wachsen. Zugedeckt mit einem Tuch. In der Schwärze. Im Dunkeln. Die Klingel hörte nicht auf mich zu belästigen und ich wollte die Türe nicht öffnen. Mich nicht zeigen in dem Sonntagmorgenzustand in dem ich mich befand. Wie wäre jetzt eine Gegensprechanlage hilfreich gewesen. Obwohl ehrlich gesagt (auch so eine Floskel) der Wahrheit das Gegensprechen nicht entgegenkommt. Besass aber kein solches Ding. Zurück auf meine noch warme Matratze? Ohrstöpsel einsetzen? Den Fernsehapparat auf Lautstärke zehn stellen? Da vernahm ich vom Draussen ein heiseres Bellen. Ein unglückliches Gekläff. Und durch die Eingangstür vernahm ich jetzt, seit wann übersetzt Google eigentlich Hundesprache: „Ich will die Wahrheit wissen! Weshalb muss ich ein Hundeleben leben …?“

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"Umdieeckedenken" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:





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