Fest gemauert in der Erden
Steht die Form, aus Lehm gebrannt.
Heute muss die Glocke werden.
Frisch Gesellen, seid zur Hand.
Von der Stirne heiß
Rinnen muss der Schweiß,
Soll das Werk den Meister loben.
Doch der Segen kommt von oben.Mit diesen Worten auf den Lippen wanderte der ältere Herr
durch den Eingangsbereich der Buchhandlung und steuerte
mit festem Schritt die Klassikabteilung unseres Hauses an.
Ich hatte vor drei Tagen meine neue Stelle als Kassiererin in der
grössten Buchhandlung unserer Stadt angetreten. Nach einer komplexen
Durchleuchtung meiner Vergangenheit und sechs Bewerbungsgesprächen.
Von Stockwerk zu Stockwerk der Hierarchie weitergereicht,
bis mich der erlösende postalische Bescheid erreichte, ich
sei unter dreiundsechzig Bewerbern ausgewählt worden, die dreimonatige
Probezeit antreten zu dürfen.
Überglücklich hatte ich die ersten zwei Tage der Schnellausbildung
durch meine Vorgängerin, die des Elternurlaubs wegen ausschied,
hinter mich gebracht und sass an jenem Morgen erstmals in meiner
Kassenburg. Erstaunt blickte ich dem Herrn, der Schillers Glocke
auf den Lippen trug, nach. Mein Kollege, der am Einsortieren der
neuesten Bestsellerliste war, tat mit einem breiten Stockzahnlachen
dasselbe.
Kaum fünfzehn Minuten später stand der Kunde, dem ich den
Spitznamen Schillerlocke – war ja nur ein Buchstabe entfernt! –
zugeordnet hatte, vor meinem Arbeitsplatz und legte einen Stapel
Bücher hin. Er zückte seine Brieftasche und entnahm ihr einen
grossen Geldschein. Es war ein Fünfhunderter, bei dem ich in der
Schulung angewiesen worden war, einen solchen erst nach Prüfung
bei der Bank entgegenzunehmen. Zu viele Fälschungen seien im
Umlauf. Der Herr aber schien es sehr eilig zu haben. Ich erklärte
ihm die Vorgaben der Geschäftsleitung und fragte, ob er das Geld
nicht kleiner hätte.
Er antwortete wutentbrannt, ob ein Fünfhunderter mir nicht heilig
sei. Ihm schon. Und er sei nun wirklich kein Fälscher, das könne
ich ihm glauben. Auch wenn er nicht nach einem Milliardär ausschaue,
besitze er doch beinahe so viel, dass er sich in dieser Kategorie
bewegen könnte. Er komme schliesslich einmal in der Woche
zum Bücherkauf hierher und habe bisher stets anstandslos mit einem
Fünfhunderter bezahlt und nie sei ihm jemand so gekommen wie
ich!
Ich sah, wie die Wut in seinem Inneren über meine, den Arbeitsanweisungen
entsprechenden Bemerkungen, wie in einem Hochofen
aufkochte. Flüssiges Metall schien bis in seine hintersten Zellen zu
fliessen, denn sein Kopf, aber auch seine Hände, jedes Stück Haut,
dass ich sehen konnte, wurden weissglühend. Seine Ohren begannen
zu leuchten, als wären sie Positionslichter eines Schiffes in der Nacht,
mit dem einzigen Unterschied, dass beide rot und nicht jeweils rot
und grün waren. Auch in mir tobte ein Konflikt, weniger heiss als
im Hochofen, aber immerhin überkochend, wie die Milch am Siedepunkt.
Und der weisse überschäumende Unsicherheitsbrei verbreitete
sich in kochender Milches-Eile durch meine Adern, erreichte
meine Hirnlappen und lähmte dort mein Sprachzentrum.
Ich sass also der Schillerlocke mucksmäuschenstill und stumm
gegenüber und blickte in seine jetzt glühenden Augen. Die meinen
mussten von aussen her gesehen ansteckend Unsicherheit verbreiten,
ja die ganze Unsicherheit und Existenzangst eines jeden Lebewesens
zum Ausdruck bringen. Und Sie können es glauben oder nicht, ich
roch den ekeligen Duft verbrannter Milch, fürchtete mich bereits
vor den Aufräumarbeiten, die bestimmt gleich folgen würden, und
hoffte auf die Abkühlung des Hochofens meines Gegenübers.
Nicht nur mein Sprachzentrum schien betroffen. Nein, auch die
Gluthitze der Schillerlocke hatte alle Schimpfworte schmelzen lassen,
sodass wir uns nun stumm aber aufrecht gegenüber standen,
uns weiter anstarrten und versuchten, hinter der Iris des anderen
dessen Seele zu erkennen und zu ergründen. Es kam mir vor, als
wären wir in einer altertümlichen Photographie mit Chamoisabzug
gefangen und könnten uns nicht mehr daraus befreien. Ja, Befreiung
war das Schlüsselwort, nach dem wir uns beide sehnten, doch hatten
wir jeder für sich den Schlüssel dazu verlegt. Zum Suchen blieb uns
in unserer grobkörnigen Schwarzweiss-Erstarrung keine Möglichkeit.
Da kam – ich sah ihn in meinem linken Augenwinkel als Schatten, vor
dem ich mich nun auch noch zu fürchten hatte – der Geschäftsführer
unseres Unternehmens auf uns zu geeilt und brach den Bann mit einer
herzlichen Begrüssung. Ich hatte nicht gewusst, dass er so warmherzig
und emphatisch sein könnte.
Er streckte seine Rechte aus, drückte damit
der Schillerlocke die Hand und hiess ihn willkommen, beinahe als sei es
sein verlorener Sohn. Zu mir sagte er kurz angebunden:
»Der Fünfhunderter ist in Ordnung, bei Herrn Professor Moser
gilt die Regel, wie so manche andere«, die letzten Worte sprach er im
Flüsterton, »nicht. Sie ist bei ihm ausser Kraft gesetzt.«
Ich kassierte also, liess alle Bücher über den Scanner gleiten und
wunderte mich, dass alle Schillerausgaben waren. Vom dicken Wälzer
bis zur Reclam-Ausgabe waren es fünfundzwanzig Bände. Ich
bereitete jedenfalls drei Papiertüten vor – von der Plastikverpackung
hatte sich unsere Buchhandlung bereits vor zwei Jahren verabschiedet,
was mir diese noch symphytischer erscheinen liess – und hoffte,
dass keine auf dem Weg in Schillerlockens Heim den Geist aufgeben
würde. Ich gab das Rückgeld, wozu ich einige Banknoten der Kassenschublade
in die Freiheit entlassen musste, setzte mein süssestes
Lächeln auf und entschuldigte mich wortreich beim Kunden, nicht
ohne dabei auch mein Büssergesicht aufzusetzen.
Der Hochofen erlosch dabei sogleich. Eine bessere Feuerwehr hätte
ich nicht einsetzen können. Schillerlocke reichte nicht nur dem
Direktor, sondern auch mir die Hand, erkundige sich nach meinem
Namen und strahlte wie ein Marienkäfer über das ganze Gesicht, als
ich ihm Friedrich als meinen Nachnamen nannte.
Darauf verliess er,
die Lippen glücklich im Schillerglockenrhythmus bewegend, unser
Haus, schwer beladen, aber zufrieden.
Doch da war noch die übergelaufene Milch aufzuräumen. Also war
ich nicht erstaunt, dass mich der Geschäftsführer in sein schlichtes
Büro im Dachstock bat. Als er mich hiess, ihm gegenüber zu sitzen,
schwante mir Böses. War das das Ende meiner Probezeit? Wollte er
mich meines Fauxpas wegen entlassen?
Doch es kam ganz anders. Mein Vorgesetzter begann damit,
mich für die strikte Einhaltung der Arbeitsanweisungen zu loben,
bemerkte aber dann ebenfalls, dass jede Regel eine Ausnahme besitze,
die ebendiese Regel bestätige. Der Herr Professor Moser sei da
ein beredtes Beispiel. Sein erster Gang in der Stadt nach Abhebung
seiner Wochenrente auf der Bank sei der Besuch unserer Buchhandlung.
Er habe seine Monatsrente akribisch in Wochen auf Heller und
Pfennig aufgeteilt, nicht umsonst habe er den Mathematik-Lehrstuhl
der hiesigen Universität während Jahrzehnten inne gehabt und
manchen rechnerischen Durchbruch zum Wohle der Wissenschaft
erreicht.
Einem Makel, und bei der Schilderung des Tatbestands wechselte
mein Vorgesetzter ins Pianissimo, sei der Professor aller Ehrungen
zum Trotz aber nie entkommen.
In seiner Schulzeit – das habe er
dem Geschäftsführer an einem Heiligabend, als wolle er sich von
dieser schweren Last befreien, gebeichtet – habe er in der vierten
Klasse Schillers Glocke auswendig lernen und vor der ganzen Klasse
frei vortragen müssen. Was ihm nie gelungen sei. Immer wieder
habe er sich verhaspelt. So nehme er jetzt in seinem hohen Alter
Rache an diesem Makel und kaufe jede Woche alle buchhändlerisch
vorhandenen Ausgaben der Schiller'schen Glocke, um sie dann fein
verschnippelt der Papierabfuhr zu übergeben.
Natürlich, ergänzte der Direktor, habe sich seine Buchhandlung
längst darauf eingestellt und sorge stets für den notwendigen und
diversifizierten Nachschub. Zufriedene Kunden seien schliesslich die
Maxime des Unternehmens und Zufriedenheit könne nur im Eingehen
auf die Kundenwünsche erreicht werden.
Ich verliess das Büro, um meine Kassenburg erneut zu besetzen,
mit den Worten von Schillers Glocke auf den Lippen, die mir seit
meiner Schulzeit unvergessen im Hirn eingebrannt sind.
Aus meinem im Oktober 2015 erschienen Band ‚BUCHHANDLUNG ZUM GOLDENEN BUCHSTABEN‘, Allitera Verlag, München, ISBN 978-3-86906-762-9 Auch als E Book auf www.buch.ch, www.buch.de, und www.amazon.de erhältlich.
"Das Lied von der Glocke" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:
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LESUNGEN
02. NOV 24
LESUNG
Schloss Hünigen Konolfingen 18:30 Uhr
zusammen mit Stefan Heimoz
Ich bin ein interner Schüler mit dem Wahlfach Philosophie in einem bekannten Internat in den Alpen. Ermöglicht durch ein Stipendium, das von einem aus armen Verhältnissen stammenden...