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Die Weiche

„Wir stellen die Weichen aus unserem Führerstand durch elektrische Impulse", bemerkte der erfahrene Trampilot auf meine Frage, wie denn die Richtung der Tramwagen bestimmt würde. „Keine Stellwerke wie bei der Bahn“, fuhr er fort und zog dabei an seiner Zigarette, die er genüsslich an der Endhaltestelle, in der Sonne stehend, rauchte. „Wäre viel zu kompliziert bei den vielen Linien. Keiner könnte die Übersicht behalten. Unmöglich. Selbst der cleverste Computer nicht. Zu viele Daten. Zu viele Bewegungen. Wir aber, müssen immer höllisch aufpassen, dass die Weichen so gestellt sind, dass die uns in die richtige Richtung dirigieren. Sonst wären wohl die Fahrgäste nicht zufrieden, wenn sie an einem anderen Ort anlangten, als die bestiegene Linie befährt.“ Ein kurzes, fast bellendes Lachen mischte sich in den Kringelrauch, den er kunstvoll auszupusten wusste.

Ja, und manchmal gehorcht eine Weiche nicht auf unsere elektronischen Befehle. Aber das wird am Signal angezeigt. Dann muss der Wagenführer aussteigen und die Weiche von Hand stellen. Nein, nein, das geschieht nicht nur im Winter, denn dann sind die Weichen beheizt. Höchstens wenn die Schneeräumung kurz vor unserer Durchfahrt Schnee in die Schienen gepresst hat, kann es vorkommen, dass wir aussteigen, den Schnee auskratzen und dann erst die Weiche stellen können. Aber das sind tägliche Vorkommnisse, während Sie nach Ausserordentlichem jagen.“ Bei diesen Worten durchquert ein Schalkblitz den Augenhintergrund meines Gesprächspartners. „Ja, auch das kann ich Ihnen bieten, aber erst an der nächsten Wendeschleife. Nehmen Sie einfach Platz. Entspannen Sie sich und geniessen Sie die Stadtdurchfahrung!“, darauf verschwand er in seinem Cockpit.

Ich befolgte seinen Rat, setzte mich in den vordersten Einzelfahrgastsitz und genoss die fünfunddreissig Minuten währende Fahrt. Versank in den morgendlichen Stossverkehr und, beobachtete die gestressten Verkehrsteilnehmer Stellte mir die Frage, weshalb die Menschen sich das antaten und nicht den bequemen öffentlichen Verkehr nutzten. An der Endstation angekommen, verliess der Trampilot sein Cockpit griff nach seinem Zigarettenpäckchen und suchte in seinen Taschen nach dem Feuerzeug. Fand dieses nicht, zuckte mit den Achseln: „Höhere Fügung“, richtete er das Wort an die Packung und schob den ungerauchten Glimmstängel zurück.

Ja, eines Tages, ich war erst ein halbes Jahr im Dienst der Verkehrsbetriebe, geschah es. Es war ein Samstagabend und ich hatte Nachtdienst. Wie viel lieber wäre ich damals mit meiner Freundin, die ich so innig liebte, ausgegangen, statt im Fahrdienst eingesetzt zu sein und nicht zu wissen, ob sie in dieser Nacht nicht einen anderen finden würde. Eifersucht plagte mich. Kein anderer Mann durfte seine Augen zu lange auf meiner Liebe ruhen lassen. Mein feuriges südliches Temperament liess das nicht zu. Augen- und Körperdrohgebärden waren die Folge.

Und an diesem Samstagabend sass ich gefangen in meinem Führerstand und fuhr die Partygänger an ihr Ziel. Jeden Mann, der meinen Tramzug bestieg, beäugte ich genau: War er der potentielle Rivale? Ach, was leidet man als junger Mensch! Unsäglich ist das. Und aus heutiger Sicht unbegreiflich. Und bei diesen dunklen Gedanken, die mir wie Dämonen den Kopf füllten, geschah es.
Ich beachtete eine Weiche nicht und fuhr, ohne es gleich zu bemerken, in eine vollkommen falsche Richtung. Erst als die nächste Haltestelle auftauchte, kam diese mir verdächtig vor. Und als mir schliesslich ein Gegenzug mit einer anderen Nummer als der meinen entgegenkam, traf mich ein ziemlicher Schreck.

Wild begann ich zu überlegen, was nun zu tun sei. Rückwärtsfahren, obwohl verboten? Die Leitstelle anrufen und Minuspunkte einfahren? Ich besass ja als Novize immer noch die provisorische Fahrbewilligung. Meinen Beruf fahrlässig in Gefahr bringen? Nein. Und wenn mich ein Kollege verraten würde und diese ausserplanmässige Fahrt der Leitstelle als besonderes Vorkommnis melden würde? Nein, auch das war zu vermeiden. Zu verhindern.
Während diese Gedanken meinen Kopf belagerten, mir den Schweiss auf die Stirn trieben und Tränen in meinem Inneren produzierten, da ich damals in Stresssituationen immer noch zu kindlichen Reaktionen neigte, klopfte es bereits an meine Scheibe. Der erste Fahrgast stellte mit wuterfüllten Stimme die Frage, wohin wir eigentlich fahren würden, wünschte mich offensichtlich ins Pfefferland. Da plötzlich kam mir die rettende Idee!“, wieder blitzte der Schalk in den braunen Augen des Wagenführers.

„Ein älterer Kollege hatte mir in der Fahrschule unter striktester Verschwiegenheit ein Geheimnis anvertraut. Er sagte damals, ich glaube, es war in der dritten Woche meiner Ausbildung: 'Wenn du je in Not bist und am liebsten nicht mehr gesehen werden willst, da unter dem Sitz neben der Warnjacke befindet sich die Tarnkappe. Ziehe sie einfach über den Kopf und niemand wird dich oder deinen Tramzug noch sehen!'

Ja, dieser rettende Gedanke kam mir damals am 1. April vor dreiundzwanzig Jahren“, und der Schalk brach jetzt aus den Augen des Trampiloten aus und breitete sich über sein gesamtes Antlitz.


"Die Weiche" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:





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