Als Kleinkind kam ich bereits mit Gardinen in Berührung. Mit Vorvorhängen die vor fremden Blicken während des Tages schützen sollten und mit schweren Nachtgardinen die das Tageslicht fernhalten sollten. Ich liebte es an den Gardinen zu zupfen was mir stets eine Portion Schelte meiner Mutter einbrachte. Meine Eltern betrieben eine Gardinenwäscherei was viel Fingerspitzengefühl von ihnen verlangte. Löcher in von ihnen gewaschener Ware setzte kleine Dramen, heute würde die Bezeichnung Dramolette noch treffender sein, mit der Kundschaft in Gang. Ich vernahm dann als Kindergartenkind in meinem Spielzimmer nach der Heimkehr heftige Auseinandersetzungen insbesondere wenn es sich um Eilaufträge handelte. Bereits damals vermutete ich, dass solche Kundschaft echt etwas zu verbergen hatte und nicht auf Sichtschutz selbst für einige Stunden verzichten konnte. Denn solche ‘Malheurs’, wie sie meine Mutter nannte, waren innert Tagesfrist durch ihre Nähkünste behoben. Um den Unmut der Auftraggeber zu besänftigen bot sie jeweils an undurchsichtige Badetücher temporär zur Verfügung zu stellen damit kein fremdes Auge in die Behausung der Wütenden eindringen konnte.
Als ich dann eingeschult wurde und die Lehrerin bei Unruhe im Schulzimmer damit drohte den Oberlehrer zu holen, der dann wie sie mit strengster Stimme bemerkte, eine Gardinenpredigt halten werde, was zu unmittelbarer Mäuschenstille im Schulraum führte. ’Gardinenpredigt?’. Gehörten meine Eltern einer geheimen Sekte an, denn Predigten hörte ich jeweils sonntags in der Kirche an und diese waren meist so langweilig und oft bedrohlich, dass ich zuhause ab diesem Zeitpunkt in Ängste verfiel, denn ich erwartete nun von meinem Vater eine Predigt bei der seine donnernde Stimme mich bedrohen, mir meine kleinen Tageslügen austreiben würde. Und nie hielt er, der sich mit Gardinen mehr als auskannte eine solche Predigt. Und das was nicht geschieht, aber in der Luft wie Gewitterwolken hängt, ängstigte mich so sehr, dass ich immer stiller und schüchterner selbst gegenüber meinen Eltern wurde.
Den Mut den Vater auf die ‘Gardinenpredigt’ anzusprechen, besaß ich nur wenn ich allein in meinem kleinen Zimmerchen, geschützt durch die geschlossene Türe saß und mit stummen aber beherzten Worten meinen Vater zur Rechenschaft zog. Doch ich erhielt, logisch war das zwar, aber für mich unverständlich, nie eine Antwort auf meine anschuldigenden Worten mir das Geheimnis der Gardinenpredigt zu erklären. Bis ich eines Tages, ich war bereits in der zweiten Schulklasse, die Geduld verlor, in unser Wohnzimmer schritt um alle Gardinen herunter zu reißen, dachte ich doch bestimmt dahinter die Kanzel der geheimnisvollen Organisation zu entdecken von der mein Vater seine Gardinenpredigten halten würde. Das Ergebnis das ich mein Leben nie vergessen werde war eine Gardinenpredigt die sich gewaschen hatte und ohne Löcher sich in mein kleines Gedächtnis auf immer einprägte.
Aus:
François Loeb’s
Sprichwort
SchüttelBecher
Weis-heiten des 21. Jahrhunderts
"Herzlichen Dank für Ihre Geschichten. Mal sind sie zum laut lachen, manchmal sehr berührend und tiefgreifend. Ich freue mich auf jede - mit oder ohne Gardinenpredigt. "
"Gardinenpredigt" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:
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