Kurzgeschichte der Woche

Mückenplage

Bereits den ganzen Sommer war es auf der Westseite der Arena in den Stehplatzreihen kaum auszuhalten. Jetzt im Herbst wurde es noch schlimmer. Kaum stand ich erwartungsvoll auf einer der Rampen, umsurrten mich Armeen von Mücken und stachen lüstern zu – ich konnte mich ihrer kaum erwehren.
Der Gang zur Apotheke und in die mir empfohlenen Tropen- Spezial-Seiten im Internet erleichterten zwar meine Geldbörse, doch die Produkte, ob Sprühflaschen, Zerstäuber, Stifte oder Salben, brachten ausser unangenehmen Geruchs und Fleckenimmissionen keine Abhilfe. Ich war darob am Verzweifeln, insbesondere auch deshalb, weil ich der Einzige zu sein schien, der von den Mückenschrecken betroffen war. Die Plagegeister stürzten sich, kaum hatte ich meinen Stammplatz im Stadion erklommen, instinktsicher auf mich, suchten einen Zugang zu meiner Haut und stachen zu. «Du hast halt süsses Blut, bist sonst ja auch ein süsser Kerl», sagte meine neue Freundin, die ich im Mai kennen gelernt hatte. Sie tröstete mich nach jedem Spiel und verarztete die Stiche, die sich zu allem Unglück noch entzündeten und mir unendliche Juckreize bescherten. «Versuch’s doch einmal mit der Osttribüne!», riet sie mir voller Verständnis und bot mir sogar an, mir einen Probeeintritt zu bezahlen. Und obwohl ich eine Dauerkarte West besass, nahm ich die vernünftige Offerte an und begab mich beim nächsten Spiel an meinen neuen Standort inmitten der gegnerischen Anhänger, was – das merkte ich an den gesträubten Härchen in meinem Nacken – eine viel schlimmere Folter zu werden versprach als die Mückenscharen in meinem Fanblock.

Umringt von fremden Gerüchen, Fahnen und Sprechchören, die wie Wellen über mich dahinfegten, suchte ich tapfer einen optimalen Sichtplatz, den ich schliesslich in der oberen mittleren Ecke bei den runden Absperrungen fand. Doch kaum war ich dort angekommen, erhob sich erneut ein Surren. Die Mücken hatten mich entdeckt und deckten sich sogleich mit den Köstlichkeiten ein, die sich scheinbar in mir verbargen. Alles Haschen, Klatschen, Schlagen nützte nichts, schon spürte ich die ersten neuen Stiche, die der enttäuschten Hoffnung wegen doppelt schmerzten. Erneut erfasste mich eine Welle der Verzweiflung, besonders weil ich wiederum der Einzige zu sein schien, den die Mücken für ihren Veitstanz auserwählt hatten. Am Schluss des Spiels – unsere Mannschaft erlitt eine empfindliche Niederlage, und der Schmerz darüber legte sich wie das Milchhäubchen bei einem Cappuccino glühend heiss auf meine bereits verwundete Seele – war ich wie immer gepustelt und gefleckt, als hätten mich die Masern heimgesucht.
Verzweiflung, ja, das ist das richtige Wort, übermannte mich. Weder Ein- noch Ausgang gab es also aus meiner Misere. Niedergeschlagen ging ich nach Hause, sagte das Nachtessen mit meiner Freundin ab, die die Ergebnisse ihrer Strategie feinfühlig zu ergründen suchte, versprach ihr, am kommenden Tag zu berichten, und setzte mich an meinen PC, um, wie ich mir selber schwor, eine schlussgültige Lösung meines Problems zu finden, konnte ich doch nicht der Einzige auf unserem Globus sein, der sich damit herumzuschlagen hatte.

Wenn es im Internet Hilfsgruppen und Foren für Feinstaubkostgänger, nichtanonyme Alkoholiker, Wasserallergiker, enttäuschte Zapfenfischer, Kreidefresser und unbefleckte Olivenölanhänger gab, so musste es auch für humanoide Mückenmagnete ein Forum geben oder doch wenigstens eine Beratungsseite. Ich griff mir eine Flasche Gerstensaft, verdunkelte die Wohnung, um nicht zu sehen, wie die Nacht mit ihren einschläfernden Flügelschlägen vor meinem Fenster einfiel, und suchte so, immun gegen jedwede Zeitumschlingung, meiner Erlösung forschend näherzurücken.
Beim Wort Mücken-Magnet in der Suchmaschine erschienen von der Zentraleuropäischen Nordpolgesellschaft bis zu den Sumpfbrutstätten Asiens, von der Lichtempfindlichkeit der Mückenpupillen bis zum Magnetstrom, der möglicherweise Mückenpopulationsvölkerwanderungen (wohlgemerkt in einem Wort geschrieben) auslöste, 17 724 Vorschläge, die mich Stunden des Durchforstens kosteten. Denn irgendwo, möglicherweise ganz leicht zu übersehen, konnte ja der von mir gesuchte Schatz vergraben liegen. Oft hatte ich bei dieser Arbeit nur eine Hand frei, waren doch die Finger der anderen mit dem Lindern des Juckreizes voll beschäftigt, obwohl ich wusste, dass sich dann durch Entzündungen nur neue Qualen auf mich senken würden.
Ich war schon fast dabei, die Suche aufzugeben, als ich auf eine Internetseite mit dem Titel «Das Idiom der Mücken» stiess, die von der Forschungsarbeit an einer berühmten Universität Amerikas berichtete: Anhand von Computerprogrammen der «sophicatetd» Art, was dieses Wort auch immer bedeuten mag, hätten Wissenschaftler in einem Labor, in dem sumpfähnliche ideale Lebensbedingungen für die Tiere geschaffen worden seien, die «Communicationshäbits» (die Übersetzungsmaschine schien an diesem Tag nicht optimal eingestellt zu sein) der Mückenschwärme entschlüsselt. Demnach würden Stechmücken sich gegenseitig mitteilen, wo besondere Leckerbissen zu erwarten seien. Doch sei festgestellt worden, dass auch falsche Fährten gelegt würden, um der eigenen Art (die Wissenschaftler bezeichneten das als «family») besonders ergiebige Felder zur exklusiven Nutzung zu erhalten.

Aufgefallen sei den Forschern weiterhin – und hier wuchsen meine durch die lange Nacht am Computer zu schmalen Spalten geschrumpften Augen auf Untertellergrösse an –, dass Mücken auch voller spielerischer Triebe seien, so habe man zum Beispiel festgestellt, dass die Lernfähigkeit dieser Wesen äusserst entwickelt sei und sie dadurch in der Lage sein, menschliche Spiele zu kopieren. Es folgten eine Menge Beispiele, die meine von Fragen zerfressene Seele bis in die letzten Untiefen zu erleuchten wusste. Endlich, endlich kannte ich nun den Grund meines unendlichen Leidens. Die mich heimsuchenden Mückenschwärme hatten das Fussballspiel entdeckt, und ich war offenbar ihr Stadion.
Seither ertrage ich die Plage ohne Murren, denn weshalb sollten Mücken nicht auch ihren Spass haben und wenigstens für ein Paar Halbzeiten ihr endliches Leben vergessen. Mehr noch: Seit über zwei Jahren zeichne ich systematisch jeden einzelnen Spielzug der beflügelten Mannschaften auf, um endlich hinter die Regeln der Mücken-Fussball-Matches zu kommen.
Meine Forschungsergebnisse werde ich im Verlag der oben erwähnten amerikanischen Universität veröffentlichen, die meine Arbeit mit grossem Interesse begleitet und mich nicht nur mehr als grosszügig finanziell – wie ich neulich feststellte, mit Mitteln eines namhaften Mückenspray-Herstellers –unterstützt, sondern mir letzte Woche sogar einen,von eben dieser Firma gestifteten, Lehrstuhl am neu entstandenen«Interdisziplinären Institut für Wissenschaft undSpiel» in Aussicht gestellt hat. Falls ich meinen Juckreiz inZukunft zu beherrschen vermag, wie der klein gedruckteText heimtückisch formuliert.

Aus: Geschichten die der Fussball schrieb: 36 Geschichten aus rundem Leder
Verlag: Benteli, Autor: François Loeb, Erscheinungsjahr 2008, ISBN ISBN 978-3-7165-1543-3


Ein Kommentar zu dieser Kurzgeschichte:

Im 09. Juli 2016 schrieb ein anonymer Leser:

"Bin kein Fussball-Fan, aber diese Geschichte ist wirklich lustig. Ich möchte wenigstens den Match der Mücken verfolgen - wer weiss, vielleicht würde ich dann sogar die Regeln des Spiels endlich begreifen...."


"Mückenplage" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:





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